Laudatio Wollita-Preis 2011 von Wolfgang Müller
Mit dem Wollita-Preis werden seit 2007 jedes Jahr Persönlichkeiten, Werke und Institutionen ausgezeichnet, die das Denken geöffnet haben und Räume schaffen für neue Qualitäten in Kunst, Kultur, ja sogar im Leben. Devianz und nicht-marktkonforme Produktion sollen ausgezeichnet werden.
Dieses Jahr geht der Wollitapreis an eine Künstlerin, die seit den 1980er Jahren mit ihrer Band FSK, in Kollaborationen mit anderen Künstlern und als Solistin bewiesen hat, dass es auch heute noch möglich ist, intelligente, die Sinne anregende, vielschichtige Kunstwerke zu schaffen, die sich jenseits der vom Kunstmarkt gewünschten Spektakelkunst und Effekthascherei bewegen.
Gerade gegenwärtig scheint diese Qualität immer notwendiger zu werden. Es gibt eine zunehmende Zahl von Kunst, die vermittelt über die von kritischer Reflexion weitestgehend befreiten Medien den aggressiven Eingriff in den Körper anderer Menschen als Aufklärung oder Gegenwartsdarstellung feiert.
In politischen TV-Talkshows wird seit Jahren ganz ungeniert und ohne jede Scham über den Kosten-Nutzenfaktor des Menschen debattiert. Millionäre fordern Schneeschippen für Hartz IV-Empfänger, Zwangsarbeit für die „Gemeinschaft“ oder ehrenamtliche Sozialarbeit alles gratis. Ein Bankenvorstand betätigt sich als Hobby-Eugeniker und irgendwann entsteht mit medialer Unterstützung der Eindruck, nicht etwa Bankvorstände aus der „christlichen Leitkultur“, sondern „muslimische“ Gemüsehändler verlangten 480 Milliarden von den Steuerzahlern für ihr verzocktes Roulettespiel. Selbstverständlich reproduzieren auch Künstler die neo-individualliberale Botschaft und meinen, der Körper anderer Menschen wäre ein brauchbares, gut geeignetes Anschauungsmaterial für grenzüberschreitende, kritisch gemeinte Kunst.
Gregor Schneider kündigte einst an, er habe einen Todkranken gefunden, der in einem, von Schneider gestalteten Raum öffentlich sterben wolle. Groteske Anmaßungen. Wenn die Kunst des Spektakels tatsächlich die Kraft und Ästhetik hätte, die sie sich selbst zuspricht, dann brauchten wir keine Krankenpfleger und Sterbehospize. Dann kämen die Menschen bestimmt gern freiwillig in die Kunsthallen, um neben dem Aufsichtpersonal zu sterben.
Santiago di Sierra tätowierte vier Heroinsüchtige Prostituierte mit einer durchgehenden Linie am Rücken gegen einen Lohn, während Artur Zmijewski über ein Geldangebot einen ehemaligen, 92-jährigen KZ-Häftling mit magerer Rente zwingt, die verblasste tätowierte Häftlingsnummer zu erneuern.
Bei wem schaffen diese aggressiven Eingriffe in die Körper anderer ein neues Bewusstsein? Wer braucht das? Unter Auslassung ihres eigenen Körpers, greifen finanzstarke Künstler in die Körper anderer Menschen ein, formen damit platte, unterkomplexe, spektakuläre Kunst die dann mit viel philosophischen Drumherum garniert und theoretisch aufgeschönt wird.
Völlig anders funktionieren dagegen die Ton-Bild-Werke der Künstlerin Michaela Melián aus München. Ihre installativen Arbeiten kommunizieren zwischen Bild und Ton, zwischen verräumlichten Klang- und Erinnerungsspuren. So „Memory Loops 300 Tonspuren zur Orten des NS-Terrors in München“. Oder „Föhrenwald“ von 2005, welches sich mit dem gleichnamigen Lager nahe München beschäftigt. Ein Lager, dessen Komplexität und Widersprüchlichkeit in den unterschiedlichen Zeiträumen gegenwärtig schwer nachvollziehbar erscheint und sich in diesem Werk klärt, mit den Mitteln von Kunst ohne dass dabei sich die Verschiebung selbst genügt oder Absolutheiten propagiert werden. Michaela Meliáns audiovisuellen Kunstwerke beweisen, dass die Komplexität politisch tabuisierter, gesellschaftlicher heikler, historischer Themen sehr gut mit künstlerischen Mitteln vielschichtig, sinnlich erfahrbar und berührend umgesetzt werden kann. All das funktioniert ohne Spektakel, Gewalt und Omnipotenzgesten.
Den interaktiven Kunst- und Klangwerken von Michaela Melian gelingt es, Gegenwart und Vergangenheit, Lokales und Globales, Spezielles und Allgemeingültiges, Kunst und Geschichte miteinander in einen anregenden, erkenntniserhellenden, sinnlich-ästhetischen Dialog zu setzen. Deshalb geht der „Ich sehe was, was du nicht siehst-Preis“, kurz: die „Wollita“ 2011 an Michaela Melián.
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