Genre unbekannt
Mit der Gruppe „Die Tödliche Doris“ verstörte er den Kunstbetrieb, als Goethianer der anderen Art provozierte er das Establishment, heute redet er mit Elfen und Trollen.
Die Gegend ist nicht gerade das, was die Vertreter des neuen Berlin als schick ansehen. Hier, im hinteren Teil von Kreuzberg, hat sich auch vierzehn Jahre nach dem Fall der Mauer wenig verändert. Der Blick aus dem Fenster im dritten Stock geht hinaus in Richtung Norden, in den klaren Berliner Oktobernachmittag. Als im November 1989 Kreuzberg seine Randlage verlor, gab es die Gruppe, mit der Wolfgang Müller ab 1980 bekannt, ja berühmt wurde, schon seit zwei Jahren nicht mehr: „Die Tödliche Doris“.
Müller sitzt auf einem einfachen Stuhl in seiner kleinen Wohnung, trägt schwarze Turnschuhe und eine der in Berlin typischen Militärhosen. Irgendwie wirkt er ganz normal und gar nicht wie der Kultstar des Untergrunds, als den ihn manche sehen. Doch was er damals zusammen mit Nikolaus Utermöhlen und Käthe Kruse als Tödliche Doris auf die Beine stellte, war nicht gerade das, was man eine etablierte Band nennt, sondern eher die Negation all dessen, was sich auf einen Begriff bringen ließe. Genre unbekannt. Eine ihrer inzwischen legendären Platten heißt „Chöre & Soli“; sie besteht aus einer Box mit acht farbigen Kleinschallplatten, wie sie in sprechenden Puppen verwandt werden, und einem Abspielgerät. Ähnlich spielten alle ihre Aktionen, Auftritte, Performances und Werke mit dem Unerwarteten. Heute ist das alles Geschichte, Teil des Mythos von Westberlin.
Welchen Beruf hat der 1957 geborene Mann mit dem kurzen Bart heute? Müller legt die Rechte auf sein linkes Knie: „Früher war es mir peinlich zu sagen, ich bin Künstler. Gott sei Dank hatte ich nicht das Selbstbewusstsein, diese Rolle anzunehmen.“ Müller stammt aus einer „einfachen Arbeiterfamilie“, wie er sagt: „Vater bei Volkswagen in Wolfsburg am Fließband, Mutter Hausfrau.“ Als 16-Jähriger entdeckte er seine Faszination für moderne Kunst, hörte die New Yorker Band „Velvet Underground“ und erkannte, dass die Provinz nicht alles sein konnte.
„Inzwischen würde ich schon sagen, dass ich Künstler bin“, sagt er, „da kann man ja alles Mögliche drunter verstehen.“ Das Medium spielt für ihn keine Rolle, er schreibt, macht Musik, Filme, Videos. „Die Musik, die wir als Tödliche Doris gemacht haben, das ist eigentlich keine Musik.“ Das stimmt. Die fünfte, legendäre Platte der Tödlichen Doris ist unsichtbar. Sie entsteht beim synchronen Abspielen der vierten LP, „Unser Debüt“, und der sechsten, „Sechs“. Die beiden Platten sollten damals gleichzeitig im Westen und beim staatlichen Ost-Label Amiga erscheinen; natürlich blockierte die humorfreie DDR-Bürokratie das Projekt, und beide Tonträger wurden im Westen gepresst.
Zusammen abgespielt, ergeben die Alben die fehlende „Fünfte“. Mit Gespür für das Essentielle sieht Martin Schmitz, Freund und passionierter Verleger Müllers, im Entstehen dieser „Unsichtbaren“ eine frühe „Vision von der Wiedervereinigung“ der beiden Mauerstaaten „durch Entmaterialisierung“. Im Jargon des Betriebs heißt das „Konzeptkunst“, und das war wohl auch die Schublade, in die man Die Tödliche Doris steckte. Zum Glück löste sich die Gruppe planmäßig nach sieben Jahren auf, was sie jedoch nicht daran hinderte, noch 1990 in Tokio ein Stück mit dem Titel „Das war Die Tödliche Doris (1980-1987)“ aufzuführen.
Die Auftritte der Gruppe gehörten zu den großen Momenten des Berliner Undergrounds der achtziger Jahre. Wenn es so etwas wie ein Programm dieser Zeit gab, findet es sich in Müllers Anthologie „Geniale Dilletanten“. Die bewusste Fehlschreibung des Titelbegriffs signalisierte, worum es ging: Der „Laie mit fachmännischem Ehrgeiz“, als den der Duden den Dilettanten definiert, wurde Leitbild. Für die Musik hieß das: „Lärm und Krach kann jeder machen.“ So suchte man mit „allen möglichen und unmöglichen“ Methoden nach dem „universellen Ausdruck, dem die Profis hoffnungslos unterlegen sind“.
Das Ergebnis begeisterte die Berliner Szene und schockierte die Musikkritik. Wo jede Aktion ein Versuch war, Erwartungen zu unterlaufen, rührte jeder Moment an die Grenzen der Konvention und, natürlich, auch an die des so genannten guten Geschmacks. Wirklich ging es recht wild zu, wenn Müller und Co. in ihren Kostümen (und manchmal auch ohne) auf die Bühne kamen. Damals gehörte der Schock zum Kalkül, zum guten Ton. Manchmal trat die Doris als Punkband auf, manchmal gab es nur Playback. „Jedes Konzert war eine Premiere“, heißt es in dem von Martin Schmitz verlegten Band „Die Tödliche Doris: Kunst“, einem der beiden witzigen „Doris“-Kataloge.
Wer Wolfgang Müller heute trifft, begegnet einem charmanten, zuvorkommenden Mann, der Tugenden pflegt, die in Künstlerkreisen rar sind: Höflichkeit und Bescheidenheit. An der Wand seines Zimmers sind Bücher, auf dem Tisch ein Rechner. Nichts wirkt gestylt, nichts auf Wirkung abgestellt. Freundlich erzählt Müller aus seinem Leben, von dem inzwischen an Aids verstorbenen Freund Nikolaus Utermöhlen, von Kindheit und Jugend in Wolfsburg.
Was aber treibt ihn an, seine Kunst zu machen, die wohl vielen eher als „Kunst“ gilt? „Vielleicht“, sagt er und überlegt, bevor er den Satz vollendet, „vielleicht hat man in der Kunst die Möglichkeit, weiter zu denken als woanders.“ Dieses „Weiter“ kann man durchaus wörtlich nehmen. Nach der schönen, aber auch anstrengenden Zeit der Tödlichen Doris drehte Müller um, womit er bislang Schule gemacht hatte. Statt immer neue mögliche Welten zu entwerfen, entdeckte er eine neue Chance in der Konzentration auf ein überaus wirkliches Objekt: Island.
Früher war es ihm gelungen, immer neue Ränder des Etablierten zu schaffen; heute geht er selber an die Peripherie. Denn wer kennt schon Island? Zu Recht gilt Müller inzwischen als einer der besten Kenner des Insellandes im Norden. Ein im doppelten Sinne phantastisches Buch, das Müller auf einem kleinen Pult vor seinem Fenster liegen hat, bezeugt seine Passion: „Blue Tit. Das deutsch-isländische Blaumeisenbuch“, prangt der Titel gelb auf blauem Grunde, und darunter steht er noch einmal in den seltsamen Buchstaben des isländischen Alphabets.
Wie Island selber, so ist auch das Buch ein Kosmos für sich. Im Genre des Lexikons versammelt es Milchtüten und Angst, Eiderenten, Stare, Zwergenmode, demonstrierende Hunde, eine Messe für Schwule und Lesben, Bucherwerbungsquoten, ruppige Weihnachtsmänner, den Künstler Ulfur Hrodolfsson, rätselhafte Sympathieerklärungen für die FDP, den Geburtstag des Meisenknödels, die Frage nach dem Buchstaben Z, präparierte Blaumeisen, die Israel-Island-Connection und Tausende anderer Realien, die ohne Umweg in die Poesie führen. Dass Buch und Land von Elfen, Zwergen und Trollen besiedelt sind, bedarf keiner Erwähnung.
Heute ist Island das Wahrnehmungsfeld des Wolfgang Müller, und immer wieder erzeugt er neue Blicke auf das, was „Geo“-Hefte als isländische Realität verkaufen. Hier gründete er sein privates Goethe-Institut, und wirklich erwiesen ihm die Juristen der offiziellen Organisation die Ehre, die Verwendung des geschützten Namens zu untersagen. Inzwischen haben die Münchener den Standort Reykjavik aufgegeben. Allein die Telefonnummer des besagten, in Berlin als „Wolfgang Müller“ bekannten Künstlers Ulfur Hrodolfsson erinnert noch an die glanzvollen Zeiten offizieller Kulturrepräsentanz im eisigen Norden.
In Berlin ist es spät geworden. Wolfgang Müller steht auf, nimmt ein Videoband und schiebt es in einen Rekorder: Schwarzweiße Felsen ziehen vorbei, ein eingeblendeter Gebärdensprecher trägt ein Märchen der Gebrüder Grimm in der deutschen Gebärdensprache vor. Gleichzeitig läuft der Text schriftlich auf Isländisch über das Bild. „Hier haben die Gehörlosen mal einen Vorteil“, sagt Müller: „Wer den deutschen Text hören will, braucht einen Kopfhörer.“ Danach läuft das isländische Pendant des Märchens mit umgekehrten Sprachverhältnissen.
Und Wolfgang Müller erzählt weiter, von dem gehörlosen Kellner im „Kumpelnest 3000“, der Hauskneipe der Tödlichen Doris, von seiner nach Goethes Enkel benannten Walther von Goethe Foundation, von seiner neuen CD. Er legt sie auf, und man merkt, dass er gar nicht singen kann. Aber er tut es trotzdem, sehr zur Freude seiner Gemeinde und auch vieler Kinder, die seinem Mäusefloßlied „Es geht los, es geht los“ ebenso verfallen wie den lustigen Rhythmen und Tönen, mit denen er sich, begleitet vom unvergleichlichen Volksbühnen-Musiker Sir Henry, den Wesen des Nordlandes widmet: ,,Elfen und Zwerge und Feen, ich hab sie gesehn. Die Luft ist voll mit süßen Düften, die uns erreichen, wenn wir lüften.“ Müller weiß: „Was immer du bist, was immer du machst, ob du singst oder weinst, ob du sprichst oder lachst: Das Echo ist nicht deine Sache, das Echo ist der Zwergen Sprache“, und: „Es sind Elfen, Elfen, die dir wirklich helfen.“
Und während man ihm zuhört, wie er spricht und wie er singt, wird deutlich, was Müller bewegt: seine große Liebe zu den Menschen, eine unstillbare Neugier auf die Welt und die feste Überzeugung, dass ihre Entdeckung erst ganz am Anfang steht - die der Welt und die ihrer Bewohner. Seien sie nun Elfen, Menschen oder Meisen.
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