Martin Schmitz Verlag

Weltsekunden des Dilettantismus. Der Kulturtausendsassa Martin Schmitz im Porträt von Maya Kristin Schönfelder, Kulturradio RBB, September 2016.

Verleger der Dilletanten
Martin Schmitz veröffentlicht seit 25 Jahren Werke von kulturellen Outsidern, Freaks, Grenzgängern und Visionären.
Ein Porträt zum 25. Verlagsjubiläum

Die Profis brauchen immer wieder neue Profis, um die Folgen ihrer Eingriffe zu beheben - diese kritische Maxime des Schweizer Soziologen und Begründers der Promenadologie Ludus Burckhardt prägte den jungen Martin Schmitz. Er studierte zu jener Zeit, in den späten Siebzigern, Architektur und Stadtplanung in Kassel, Burckhardt war sein Lehrer, heute verlegt Schmitz dessen Schriften.
Schmitz, 1956 in Hamm/Westfalen geboren, galt als "schwer domestizierbarer" Schüler, er spürte schnell die Energie des Punk, die in der Luft lag, und so zog es ihn ab 1979 immer wieder nach West-Berlin, wo die Genialen Dilletanten wüteten, die Künstlergeneration um Wolfgang Müller und die Tödliche Doris, den Komponisten Frieder Butzmann und die Einstürzenden Neubauten. Tief beeindruckt von diesen ästhetischen Umbrüchen in der Mauerstadt erkannte er schnell die Zusammenhänge zwischen der Theorie seines Mentors und dem wilden Treiben, das er nicht zuletzt am 4. September 1981 beim Festival der Genialen Dilletanten im Tempodrom selbst miterlebte.
„Für mich gehörte das alles zusammen“, sagte er beim Gespräch in seinem Berliner Büro. Heute ist er Professor, Kunstberater und Kurator, er leitete von 1989 bis 1997 eine Galerie und betreibt seit 25 Jahren seinen Verlag, den Martin Schmitz Verlag. Man könnte sagen, er hat sich als Verleger der Dilettanten etabliert. In den Achtzigern schlug sich Schmitz noch als Architekturjournalist und Aus stellungsmacher durch, er kuratierte das Filmprogramm der Documenta 8, zeigte dort avantgardistische Super-8- Filme der Künstlerszene um das Kreuzberger Frontkino und die Galerie Eisenbahnstraße, darunter Kurzfilme von der Tödlichen Doris, Klaus Beyer und Teufelsberg Production, und stand schließlich 1988 vor der Frage, was er mit seinem Leben anfangen soll. Seine Künstlerfreunde rieten ihm zur Galerie. Gesagt, getan, in einem alten Kiosk in Kassel zeigte er fortan Werke von Heinz Emigholz, Moritz Reichelt, Käthe Kruse und vielen anderen. Parallel dazu entstand der Verlag. „Nur Galerie war mir zu wenig, und dann habe ich festgestellt, dass viele Leute, die mich interessierten, auch geschrieben haben, und so kam die Idee, Verleger zu werden“, sagt Schmitz. Die Bücher wurden günstig produziert, die Auflagen lagen jedoch meist über 1000 Stück, den Vertrieb machte Schmitz selbst. Er verlegte Texte von Wolfgang Müller und anderen Künstlern aus seinem Umfeld und seinem wissenschaftlichen Spezialgebiet, der Dilettantenforschung.

Der Blick dazwischen

Die Kombination aus Galerie und Verlag entpuppte sich als ökonomisch sinnvoll. „Ich habe in der Galerie Bilder verkauft und konnte so die Druckerei bezahlen. Manchmal war es auch umgekehrt, spätestens mit „Blue“ von Derek Jarman, das mich lange finanziell über Wasser gehalten hat." Schmitz pendelte ständig zwischen Kassel und Berlin, zog Ende der 90er Jahre endgültig hierher. „Der Verlag ist seit 1995 hier angemeldet.“
Das Verlagsprogramm weitete sich aus, Bücher über experimentelle Rinderzucht und den Hardcore-Pornofilm der 70er-Jahre gehören ebenso dazu wie eine fiktive Autobiografie der Stereo-Total-Sängerin Françoise Cactus, ein Band zu Jörg Buttgereits berüchtigtem Splatterfilm „Nekromantik“ oder Andreas Brandolinis Gespräche über Design. „Das große Thema ist der Blick zwischen die Disziplinen“, sagt Schmitz, der seit 25 Jahren mit seinen Büchern Themen behandelt, die sonst ausgeschlossen werden.

Jacek Slaski in: Berliner TIP vom 19.11.2014
Vollständiges Interview als PDF.

Im Jahr 1989 startete Martin Schmitz (Jahrgang 1956) seine verlegerische Laufbahn in einem Kiosk. Mittlerweile hat sich der Martin Schmitz Verlag in der Kunstszene etabliert und zählt kreative Köpfe wie Heinz Emigholz, Hans Ulrich Obrist, Philipp Oswalt und Rosa von Praunheim zu seinen Autoren. Das zwanzigjährige Jubiläum feiert der studierte Architekt und Landschaftsplaner (Abschluss als Dipl.-Ing. mit einer Arbeit über Imbissbuden) mit einer Ausstellung, die bis zum 18. Dezember 2009 in Berlin zu sehen ist.

Karlheinz Schmid in: Informationsdienst Kunst Nr. 442
Zurück

(ZZZZ) 20 Jahre Martin Schmitz Verlag

Der Verlag von Martin Schmitz ist unter den Kleinen ein ganz Großartiger. Sorgfältig editierte Bücher von und mit Die Tödliche Doris, Der Plan oder die Schriften des Soziologen und Spaziegangsforschers Lucius Burckhardt. Die aktuell erschienenen Tagebücher von Rosa von Praunheim gehören zu den besten Neuerscheinungen des Jahres. (ZZZZ = Zum Niederknien)

Kito Nedo in: Zitty 25-2009, Berlin
Zurück

Der Retter der Straßenbahn
Seit zwanzig Jahren veröffentlicht Martin Schmitz essentiell Abseitiges zum Wohle der ausdifferenzierten Öffentlichkeit.

Martin Schmitz kommt gar nicht aus Kassel. Vielmehr ist er in Hamm auf die Welt gekommen. Da hat er ein Mädchengymnasium besucht, kurz vor Einführung der Koedukation. In dieser Zeit gelangte Schmitz zu der Erkenntnis »nicht domestizierbar zu sein«.
»Das ist doch prima«, sage ich. Wir illustrieren eine bewirtschaftete pleinair-Situation vor dem Hauptbahnhof in Frankfurt/Main. Beide haben wir keinen Blick für das von Tauben zugekackte Kaisersackgewusel. Die Szenen sind alle schon abgedreht. Nur die Darsteller drehen weiter ihre Kreise. Geht doch endlich heim, denke ich, während Schmitz sich die Speisekarte an die Stirn heftet. Er sieht nicht gut und kann deshalb nicht so viel lesen, wie er möchte. Nach Kassel kam er 1976 als Student. Zum zigsten Mal besprechen wir die Ausgehroutine jener Jahre. Im Trichter an der Tischbeinstraße saßen die Künstler, die Kramers und die Fiebigs, und ich war da auch mit meinen fünfzehn Jahren – und da sind Schmitz und ich uns auch schon begegnet. Wir haben sogar eine Weile im selben Haus gewohnt, Goethestraße 44. Im Parterre findet man immer noch eine Keimzelle der Literatur, das für Nachteulen existentielle Chacha.
Inzwischen heißt die kleine Bar Schakal. Ich verbinde mit diesem Ort magische Augenblicke und eine alles Mögliche zunehmend zusammenziehende Erinnerung an nächtliche Erregungen. Schmitz wohnte unter dem Dach, sein Bad hatte ein Oberlicht. Solche Bilder soll man nicht ausmalen. Schmitzmnahm Kassel zumal als ideales Labor für Nachkriegsemanationen (mit einer großartig verfehlten Planungspolitik) wahr. Er studierte Stadt- und Landschaftsplanung. Eine wegweisende Arbeit verfaßte er über Pommesbuden, von denen es in Kassel seinerzeit achtundvierzig gab. In diesem Standardwerk über schnelles Essen läßt sich die Feststellung entdecken: »Urbanität ist unsichtbar«. Im Weiteren avancierte Schmitz zum Retter der Kasseler Straßenbahn, die in der einst autogerechtesten Stadt der Republik kurzerhand abgeschafft werden sollte. Mit der Stillegung der Linie 8 wollte man das Verbrechen beginnen. Das vereitelten angehende Planungsspezialisten der Gesamthochschule mit Erhebungen und Protesten. In einem anderen Zeitalter zitiert Schmitz den Schweizer Soziologen Lucius Burckhard ungefähr mit den Worten: »Die Fachleute zerstören die Welt und brauchen folglich Fachleute zur Schadensbehebung Gerade hat er wieder einen Vortrag über seinen Mentor gehalten: vor Bankleuten in Frankfurt am Main.
Nach Berlin ging Schmitz 1983, erstmal und noch lange, ohne Kassel aufzugeben. Er ließ sich im Norden Schönebergs nieder. Er kannte schon Wolfgang Müller und so auch die anderen Tödliche-Doris-Aktivisten. Schmitz reagierte bald auf die artistischen Irrlichter der »Genialen Dilletanten« als Kurator und Verleger. 1987 gestaltete er das Filmprogramm der Documenta, zwei Jahre später gründete er am Kasseler Pferdemarkt eine Galerie in einer aufgegebenen Trinkhalle – für hundertachtzig Mark Miete im Monat. Dort zu sehen waren als erstes Fledermaus-Oszillogramme von Wolfgang Müller. Zeitgleich entstand der Verlag, auch dieser war eine Verbreitungsmaschine Müllerscher, die Blaumeise ans Finnische koppelnder Ideen.
»Man muß sich seine eigenen Koordinaten schaffen«, sagt Schmitz am Bahnhof. Eine Taube macht Anstalten, auf seinem Kopf zu landen. Die Plane, die uns den Himmel vom Leib hält, scheint ihr Koordinatensystem zu stören. Schmitz bildet seine Interessen an
Leuten aus, »die ihr angestammtes Terrain überschreiten« und folglich neue Verknüpfungen schaffen. Sein Academia und Kunst nicht unbedingt versöhnendes Denken geht davon aus, daß nicht nur er, vielmehr alle immer weniger sehen, in der Konsequenz einer von Mobilität zersetzten Wahrnehmung. So führt er die von Burckhardt begründete Promenadologie fort. Sie verlangt, »die Umgebung wieder in die Köpfe der Menschen zurückzuholen« ... mit Spaziergängen. Der prominenteste Ausflug im Namen dieser Wissenschaft hieß »Die Fahrt nach Tahiti« und führte 1987 über die Kasseler Dönche. 1992 brachte Schmitz mit viel Krach ein federleichtes Kissen auf den Deutungsmarkt, das dem tonnenschweren Documentakatalog nadelstichig nachempfunden war. Seine Galerie verkleidete er mit einem Portikus aus Sperrholz – Kasper König in klein und günstig sozusagen. Fünf Jahre später verwandelte Schmitz seine Galerie wieder in eine Trinkhalle. Man sollte meinen, daß solcher Aufwand vor der Kümmerlichkeit der Verhältnisse seinen privaten Charakter nicht verlieren kann. Dem war aber nicht so. Der Schmitzsche Kunstbetrieb zog potentes Publikum aus der ganzen Welt an. 2004 wurde der Martin Schmitz Verlag auf der Berlinbiennale ausgestellt. Also ist er womöglich auch als ein Werk des Künstlers Schmitz zu verstehen, dem ich bei anderen Gelegenheiten als Kurator, Lehrbeauftragter und Verleger begegnet bin. Wie oft habe ich in seinem Messeschlag gesessen und mir seine freundliche Ungerührtheit angesichts des Trubels und eines allgemeinen Sensationsbedürfnisses gefallen lassen. War das Konzept? Wer braucht eine Antwort auf diese Frage? Zuletzt beeindruckte mich Schmitz mit einer »Schröder erzählt«-Jubiläumskassette, erschienen zum siebzigsten Geburtstag des Wundermannes Jörg Schröder für satte 1940 Euro.
»Die ist gut gelaufen«, sagt Schmitz, und ich sag jetzt nicht verschmitzt. Gleich kommt sein Zug, und den will er unbedingt einfahren sehen. »Ich sehe gern Züge einfahren«, erklärt der Verleger im zwanzigsten Jahr zum Abschied. Ich bleibe lieber noch einen Augenblick an meinem Platz, mit dem angenehmen Gefühl, viel von dem verstanden zu haben, was sich in den letzten Jahren aus dem Schmitz’schen Kosmos in meiner Wahrnehmung verfangen hat.

Jamal Tuschik in: junge Welt vom 15.10.2009
Zurück

Weltsekunden des Dilettantismus
Von Weisen und Toren. Hinter vielen Künstlern aus Berlin steht sein Verlag: Martin Schmitz entdeckte im Kreuzberg der 80er-Jahre, was er seit 20 Jahren mit schönen Büchern fördert. Ausstellung im RuDi.

„Doris ist mitten unter uns“, schrieb Klaus Laufer 1982 in dem Merve-Bändchen „Geniale Dilletanten“ (sic). Wolfgang Müller hatte das Büchlein nach der Veranstaltung „Die große Untergangsshow – Festival Genialer Dilletanten“ herausgegeben und das l zu viel und das t zu wenig waren Programm. Im Gegensatz zum Profi, erklärte Müller, stünden alle hier versammelten Künstler – darunter die Musikband und Kunstgruppe Die tödliche Doris, der Müller angehörte, die Einstürzenden Neubauten und der spätere DJ Motte – zu ihren Fehlern. Die bestünden auch darin, alle möglichen und vermeintlich unmöglichen Bereiche in ihre Kunst zu integrieren, mit dem Ziel, einen universalen Ausdruck zu finden.
„Doris stand bei mir immer irgendwie im Zentrum“, erzählt der Verleger Martin Schmitz in seiner Wohnung, die direkt auf der Grenze zwischen Mitte und Kreuzberg liegt. Schmitz, der die Werke der tödlichen Doris in vier Bänden herausgegeben hat, feiert in diesen Tagen das 20-jährige Jubiläum seines kleinen Verlags.
So wie Die tödliche Doris Musik und Filme machte, fotografierte und dichtete, versammelt auch das Programm von Schmitz’ Verlag Autoren, vornehmlich aus dem Kreuzberg der 80er-Jahre, die die Bedeutung von Architektur, Musik, Design, Film oder Kunst über die Grenzen ihres Genres hinaus entfalten und miteinander verbinden.
Neben Wolfgang Müllers Projekten sind dies beispielsweise die Bücher des Filmemachers und Autors Heinz Emigholz, der Künstlerin Françoise Cactus oder die Texte der Schriftsteller Jörg Schröder und Barbara Kalender. „Erlaubt ist alles, was sich nicht als Expertentum versteht“, erläutert Schmitz. „Fachleute zerstören die Welt und produzieren nur neue Fachleute, die Schadensbegrenzung betreiben.“ Schmitz hatte in den 80er-Jahren in Kreuzberg das gefunden, was erwährend seines Studiums der Architektur in Kassel bei seinem Professor entdeckt hatte: eine Haltung zu Wahrnehmung und Wirklichkeit, die ein anderes Verständnis von Landschaft und Raum ermöglichte. Der Soziologe und Urbanismuskritiker Lucius Burckhardt hatte in Kassel eine neue Wissenschaft, die Spaziergangswissenschaft, zur akademischen Disziplin gemacht. Die moderne Stadt- und Landschaftsplanung sollte nicht nur nach ökonomischen und politischen Interessen gemacht werden, sondern andere Wege städtischer Planung eröffnen, die nicht bei Verkehrsberuhigung und Garagendachbepflanzung enden sollten. Nach dem Tod Burckhardts verlegte Schmitz dessen Schriften zur Promenadologie.
Bei Burckhardt hatte Schmitz auch seine 1982 als Buch erschienene Diplomarbeit „Currywurst mit Fritten. Von der Kultur der Imbissbude“ geschrieben. Die historische Entwicklung des ambulanten Essens beschreibt er darin als genuine Erfindung der ersten Arbeiter, die in die Städte kamen. Seiner Leidenschaft für den Imbiss erlag Schmitz 1989, als er zurück nach Kassel ging: In einer ehemaligen Trinkhalle gründete er Galerie und Verlag. Die Galerie schloss Schmitz 1999 wieder, mit einem Fest, auf dem 100 Kästen Bier getrunken wurden. Die behutsame Sanierung einer Trinkhalle sozusagen.
Seinen Verlag betreibt er weiter und auch die Idee des Dilettantismus. Seit Jahren hält er Vorträge über die „Weltsekunden des Dilettantismus“. Diese sind für Schmitz aber nicht nur die Kreuzberger Avantgardekünstler der 80er-Jahre. Eine dieser Weltsekunden sei die Stelle im Korintherbrief, in der Paulus den Zweiflern erläutert, dass die Weisen die eigentlichen Toren sind, weil sie mit ihrem irdischen Geist seine Worte nicht verstehen könnten. Und ein Tor ist, wer glaubt, dass die Geschichte des Dilettantismus mit dem Mauerfall zu Ende war.
Schmitz, 1987 Kurator des Filmprogramms der documenta VIII, stellte dort 1992 ein Kissen der Künstlerin Annemarie Burckhardt aus: Das war in Buchform genäht, in Kreuzstich mit „documenta IX“ bestickt. Die documenta-Leitung wollte das Kissen verbieten und strengte einen Prozess an. Doch das Verbot konnten sie nicht durchsetzen, „documenta“ war damals noch kein geschützter Name. Für das documenta-Kissen werden von internationalen Museen mittlerweile Preise gezahlt, die weit über den Preisen für die documenta-Kataloge liegen.
Ab Samstag wird der 20. Geburtstag gefeiert, mit einer Ausstellung im Friedrichshainer Nachbarschaftszentrum RuDi: Mit dabei das documenta-Kissen, die Häkelpuppe Wollita von Françoise Cactus, Fotos von ausgesuchten Pommesbuden, eine Sammlung mit Waren, die den Namen Profi oder Professional tragen, Filme der tödlichen Doris und Schmitz’ eigener Beitrag zum internationalen Architekturwettbewerb „Die behutsame Verstädterung der Berliner Mauer“ von 1987.

Doris Akrap in: die tageszeitung vom 19.11.2009
Zurück

Martin Schmitz gehört zur Szene der hintersinnigen Macher im Kunstbetrieb. Der Berliner Dozent und Verleger und Künstler unter den Vermittlern hat sich an der ihm bestens vertrauten Universität in Kassel für einen Lehrauftrag im Fachbereich Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung verpflichten lassen. Dabei setzt er freilich fort, was ein anderer großer Lehrer einst entwickelt hatte: Lucius Burckhardt, der 2003 verstorbene Professor, führte die "Spaziergangswissenschaft" in der documenta-Stadt ein. Schmitz, übrigens ein Burckhardt-Schüler, wandert jetzt weiter. Ziel offen. Die Voraussetzungen sind günstig. Immerhin beendete er sein Studium mit einer Arbeit über die Kultur der Imbissbude: "Currywurst mit Fritten".

Informationsdienst KUNST Nr. 364, Oktober 2006
Zurück

Man muß es sagen
Kunst kennt keine Grenzen. Martin Schmitz auch nicht.
Zum 15. Geburtstag des Martin Schmitz Verlages

"Der Dilettant verhält sich zur Kunst wie der Pfuscher zum Handwerk", erklärt Goethe 1798 in einer Programmschrift des deutschen Klassizismus. Eine Definition, über die Martin Schmitz nur müde lächeln würde. Die in seinem Verlag publizierenden Autoren orientieren sich nicht an kultureller Konditionierung. Wichtig ist nur der lebendige, künstlerische Ausdruck einer inneren Befindlichkeit. Und den kann ausführen, wer ihn ausführen will. Wenn man etwas sagen möchte, dann gibt es nur eine Möglichkeit: Man muß es sagen.
Anregungen für sein Kunstverständnis erhält Schmitz während seiner Studienzeit in Kassel. Speziell die Vorlesungen von Lucius Burckhardt über Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung schärfen seinen Blick für das Ungewöhnliche im Alltag. Er schreibt ein Buch über die Kultur der Imbißbude, macht das Filmprogramm für die documenta VIII und arbeitet als freier Mitarbeiter für verschiedene Zeitschriften. Aber erst mit der Gründung einer Galerie schafft sich Schmitz 1989 einen adäquaten Rahmen für seine vielfältigen Interessen. Der Raum hierfür ist in Kassel schnell gefunden: Eine ehemalige Trinkhalle aus den 50er Jahren für 180 DM Miete im Monat. Zehn Jahre lang organisiert Schmitz auf einer Fläche von 24 Quadratmetern über hundert Ausstellungen und Veranstaltungen verschiedenster Art.
Sein zeitgleich entstandener Verlag sorgt dafür, daß das vielfältige Programm auch überregional publik wird. An Künstlern, die bei ihm ausstellen wollen, mangelt es nicht. An Motiven und Themen ebenfalls nicht. Das Spektrum reicht von den Vollmondaufnahmen Käthe Kruses über Heinz Emigholz’ Ausarbeitungen zur »Basis des Make-up« bis zu Wolfgang Müllers Ausstellung »Parus Caeruleus«, die sich mit den Farben Blau und Gelb beschäftigt. Blau und Gelb sind nicht nur die Farben der Blaumeise, sie sind auch das Markenzeichen der FDP. Müller, der diese Verbindung als erster erkennt, baut den kompletten Wahlkampfstand der FDP aus Berlin in der Galerie auf und bearbeitet sämtliche Werbemittel mit Blaumeisen-Emblemen. Während der documenta IX verwandelt sich die Galerie jede Woche in eine andere Institution: Frankfurter Portikus, Merve Verlag, Schwules Museum Berlin, Kunsthalle Bremerhaven. 1999 wird der öffentliche Galeriebetrieb jedoch geschlossen. »Hundert Kästen Bier, und dann war Schluß«, bedauert Schmitz. »Zwei Unternehmungen gleichzeitig habe ich einfach nicht mehr geschafft.« Er entscheidet sich für den Verlag, weil ihm diese Arbeit mehr Möglichkeiten bietet, sich mit verschiedenen Inhalten zu beschäftigen. Neben der verlegerischen Tätigkeit existiert der Kunsthandel aber weiter. »Da muß man einfach mal bei mir anrufen«, empfiehlt der Verleger.
Im Verlag geht alles, was im Bereich Kunst so möglich ist. Zu den Autoren gehören Filmemacher wie Elfi Mikesch, Heinz Emigholz, Derek Jarman und Rosa von Praunheim, Literaten und Musiker wie Françoise Cactus und Moritz Reichelt, Theoretiker wie Lucius Burckhardt und sogenannte Allesmacher wie Wolfgang Müller und Klaus Beyer. Das verbindende Moment dieser Künstler: der grenzüberschreitende Charakter ihrer Werke. Man ist sich der herkömmlichen Gattungen durchaus bewußt, bewegt sich aber auch gern dazwischen oder experimentiert in neuen Bereichen. Warum sollte man den documenta-Katalog nicht mal auf ein Kissen sticken, wie es Annemarie Burckhardt in den Sinn kam? Auch wenn die Ausstellungsgesellschaft der documenta IX die Verbreitung des Kunstwerks dann verbietet. Was spricht gegen eine CD-Dokumentation von norwegischen Staren, die Melodien von Kurt Schwitters nachpfeifen können? Da Wolfgang Müller nun zufällig ein Aufnahmegerät bei sich hatte, als er die Vögel belauschte. Warum nicht die gesamte Palette von Beatles-Songs neu übersetzen und interpretieren und sie zusätzlich visualisieren und verfilmen, wenn man die Beatles eben so sehr liebt wie Klaus Beyer?
Eigenständige Kunstformen, die aus einem unkalkulierbaren künstlerischen Antrieb entstehen, können und sollen im Martin Schmitz Verlag eine Plattform finden. Dazu gehören die in Gedichtform gegossenen Haßtiraden eines Rosa von Praunheim gegen seine Künstlerkollegen ebenso wie die Gespräche von Ueli Etter, die dieser mit verschiedenen Tassen und Stühlen führte. Und wenn die Leute im Buchhandel nicht wissen, in welches Regal sie eine Komposition aus Elfen-, Zwergen- und Sexualkunde wie »Blue Tit« von Wolfgang Müller einordnen sollen, dann ist das nicht Martin Schmitz’ Problem. Sondern Kennzeichen einer kulturgeschichtlich verbrämten Kunstauffassung.
Überhaupt Müller. In ihm hat Martin Schmitz sein Pendant gefunden. Hier trifft das breitgefächerte Interesse des Verlegers auf einen mindestens ebenso breitgefächerten Aktionismus des Künstlers. Musik, Hörspiel, Skulptur, Text oder Zeichnung – Müller wählt für seine Konzepte einfach das Medium aus, das für das Projekt am geeignetsten erscheint. Müller hat übrigens auch für die Übersetzung von Goethes »Metamorphose der Pflanzen« ins Isländische gesorgt. Im Gegensatz zum Professionellen kümmert sich ein Dilettant nämlich nicht um Abgrenzung. Und Angst vor dem Scheitern hat er auch nicht. Wie Herbert Achternbusch schon sagte: »Ich bin stolz, daß ich mich in der süßen Soße des Dilettantismus entwickle. Es ist schön, alles vergessen zu können, die schlechten Noten usw.« Geniale Dilletanten. In den 80er Jahren soll es angeblich so viele von ihnen gegeben haben. Momentan findet man sie nur noch im Martin Schmitz Verlag.

Ina Bösicke in: junge Welt vom 03.07.2004
Zurück

Der Martin Schmitz Verlag

“Martin Schmitz beweist mit seinem 1989 gegründeten Verlag viel  Sinn für gehobenen Unsinn. In seiner Kunst-Edition gab er beispielsweise Annemarie Burckhardts documenta-9-Katalog-Kissen heraus. Prompt folgte der Beschlagnahmungsversuch - und Burckhardts Buch “Der falsche  documenta-Katalog”. Als Publizist wie Ausstellungsmacher ist Schmitz Nachlaßverwalter der “Tödlichen Doris”. Fast ein Jahrzehnt gaben Nikolaus Utermöhlen, Käthe Kruse und Wolfgang Müller unter diesem Namen zu  Punk-Hochzeiten ihre berühmt-berüchtigten Performances und Konzerte. Nach Auflösung des Trios arbeiteten sie als Solokünstler. Utermöhlen starb 1996 an AIDS.
Elfenforscher und lslandfan Wolfgang Müller ist ein Star des Verlagsprogramms. Als das Goethe-Institut auf Island geschlossen wurde, gründete er im Nyhlistasafnid (Living Art Museum Reykjavik) das welterste private Goethe-Institut. Dazu erschien bei Schmitz “Blue Tit - Das deutsch-isländische Blaumeisenbuch” als zweisprachiges Lehrmaterial in Elfen-, Zwergen und Sexualkunde. Nicht nur zur Buchmesse präsentiert sich der Verlag in Frankfurt. Am 12.November wird im Künstlerhaus Mousonturm gefeiert. Lesung, Konzert, Film und CD-Premiere zur Martin-Schmitz-Neuerscheinung “Und immer parallel zur Venus" von D. Holland-Moritz.”

Elfi Kreis in: Die Kunstzeitung, Oktober 2001
Zurück

Fluchtburg für Querulanten aus aller Welt
Der Berliner Verleger Martin Schmitz macht die Bücher, die sonst keiner machen mag.

“Bevor es ein anderer macht, mach' ich es.” Nach dieser Devise verlegt Martin Schmitz Künstlerbücher. Sie gewähren Einblick in eine Nische, die sich im Berliner Kunstleben der achtziger Jahre gebildet hat. Den Autoren der drei Bände Kamingesprache, Hormone des Mannes und Das Bilderbuch ist ein Bekenntnis zum Berlin vor der Maueröffnung gemeinsam: “Hier konnte man sehr viele Erfahrungen machen, die man in einer glatten deutschen Stadt wie München nicht machen kann. Berlin war auf der einen Seite sehr dörflich, auf der anderen sehr polyglott, weil es eine Fluchtburg für Querulanten aus der ganzen Welt war. Das ändert sich gerade.” So Andreas Brandolini, der 19 internationale Designer interviewt hat, unter denen Hersteller von Büromöbeln, Comiczeichner und Architekten sind. Die zentrale Frage zielt auf die politische Dimension des Designs in einer Zeit, die nicht durch politische Entwürfe motiviert, so daß die Arbeit des Designers nicht an  “großen gestalterischen Gesten und Weltentwürfen orientiert ist, sondern an “kleineren Interventionen”: “Ich kann an jedem kleinen Steinchen und jeder Ecke meiner Umwelt einen kulturellen Beitrag leisten.”
Dem stellt Brandolini das Anliegen von Designern wie Massimo Iosa Ghini gegenüber, der in Comics zunächst abgeschlossene Phantasiewelten entworfen hat und sie nun in Zusammenarbeit mit der Industrie auf Messeständen, in Schauräumen und als Möbelkollektionen entwirft. Die private Phantasiewelt als Ersatz für eine fehlende Ideologie ist auch Ogar Grafes Antriebsfeder, wenn er “Flugsessel, Zuckergußtische und Hasenohr-Webpelzschränke”  herstellt und in der eigenen “Louvreboutique” ausstellt. Grafe beschreibt seine Arbeiten als entfremdete Vorstadt-Folklore”. Sie ist belebt von Teppichgeistern und Elfen, die auf “Pollunderbeermädchenwegen" tanzen oder die Stadt bevölkern, die Grafe für die “Modeschöpferin Daphne Bolislav” geplant hat.
Den Band Hormone des Mannes hat der Künstler Wolfgang Müller zusammengestellt, er geht auf eine heterosexueIle Ausstellung im  “Schwulen Museum Berlin” zurück. Dort setzten weibliche und männliche Künstler Strategien und Techniken ein, um den Stoff zu bestimmen, der Männer von Frauen unterscheiden soll. Den Autoren des Bandes ist gemeinsam, daß sie heiter mit dem Geschlechtlichen umgehen, zum Beispiel Tabea Blumenschein in ihrer Comic-Erzählung “Die Bartfrau Florette”: Dort werden die Hormone des Mannes in ein weibliches Wesen transportiert und “heraus kommt ein schöner Bart und eine Weltreise. Mit Bart läßt sich bekanntlich problemlos die ganze Welt bereisen.” Die Beiträge des Buches bilden ein schillerndes Mosaik, gemeinsam möchten sie eine Debatte über das Wechselverhältnis von Geschlecht, Schöpfung und Zerstörung anregen. Der Biologe Cord Riechelmann beschreibt männliche Berberaffen beim Babysitten und führt in der Hypothese des “agonistic-buffering” ein. “Sie besagt, daß die Männchen die Kinder als soziale Werkzeuge - soziale Puffer - benutzen, um ihre eigenen Beziehungen zu entspannen.” Dem stehen die kühlen Graphiken von Heinz Emigholz gegenüber. Sie geben Einblick in eine Enzyklopädie versachlichter Gesten, die der Filmemacher Emigholz seit Jahren aufbaut und mit der er dokumentiert , wie der Künstler “seine Neurosen selber heilt”. Abgerundet wird der Band durch den Essay “Die  Wunschkinder” von Ueli Etter. Kern seiner Überlegungen ist die Frage, was Menschen davon abhält, das, was sie für wesentlich erachten, “aus der alltäglichen Wirklichkeit heraus zu bestimmen oder zu beeinflussen”. Der Herausgeber stellt diese Beiträge als “deutsches Lesebuch” vor. Das ist für ihn gleichbedeutend mit einer Präsentation “deutscher Befindlichkeiten”, wie er sie im Nachtlokal “Kumpelnest” beobachtet. Dort trifft Müller den Übersetzer deutscher Gedichte in Gebärdensprache, den gehörlosen Gunter Puttrich-Reignard und D. Holland Moritz, der “seine Abende inzwischen mit Satelliten und modernen Frauen” verbringt: Im Picture Book von Marc Brandenburg ist die Atmosphäre dieses Treffpunkts in Zeichnungen festgehalten.”

Nils Röller in: Süddeutsche Zeitung, 17. Juni 1995
Zurück

Leichte Schläge auf den Hinterkopf

“Am Sonntag, den 15.10.1995 gegen vier Uhr morgens betrat eine Polizeistaffel den Hinterhof der Mainzer Landstr. 125 in Frankfurt am Main und beendete ein dort im Rahmen der Frankfurter Buchmesse stattfindendes Verlagsfest des Martin Schmitz Verlages aus Kassel. Nach Angaben der Beteiligten ließen sich die Polizisten auf keine Diskussion ein, sondern griffen gleich zum Knüppel und  prügelten die letzten vierzig Anwesenden aus der Lokalität. Dabei wurden ungefähr fünfzehn Personen schwer verletzt. Es wurden Platzwunden, Nasenbeinbrüche und Nierenprellungen gezählt. Einer der Mitveranstalter, Hans Romanov, wurde über mehrere Stühle geschleudert und erhielt einen Knüppelschlag auf den Hinterkopf. Nach seinen Angaben droht ihm Strafanzeige wegen ”Widerstand gegen die Staatsgewalt”, ”versuchter Landfriedensbruch”  und ”versuchte Gefangenenbefreiung”.
Man stelle sich vor selbiges wäre bei der Alten Oper passiert. Eine Hundertschaft Polizei prügelte die Besucher einer Opernveranstaltung aus dem Saal. Unmöglich? Wohl möglich, daß  der Aufschrei riesengroß wäre, parteienübergreifend, ein Skandal von dem jeder sprechen und schreiben täte. Vielleicht käme es sogar zu einem Untersuchungsausschuß in der Stadtverordnetenversammlung.
Nichts dergleichen geschah in der Mainzer Landstr. Die Tageszeitungen druckten sogar erst den Polizeibericht ab, in dem die Partygäste als ”Randalierer” bezeichnet wurden. Nur die Frankfurter Rundschau gab dem Ansinnen der Betroffenen nach auch deren Darstellung des Polizeieinsatzes wiederzugeben. Alle anderen Tageszeitungen blieben bei der Darstellung der Polizei. Nach einer Zeugin soll ein Polizist gesagt haben: ”Wir kehren den Dreck von der Straße und der Dreck seid ihr!”

Stefan Beck in: Die Neue Linke, 1996

Zurück

Einladungskarte zur Jubiläumsausstellung "Zwanzig Jahre Martin Schmitz Verlag" vom 22.11.-18.12.2009,
Rudi, Berlin-Friedrichshain.
Vernissage am Samstag, den 21.11.2009