Martin Schmitz Verlag

Annemarie Burckhardt - Der falsche documenta Katalog

”Die Logik der Ökonomie setzt sich schamlos über die der Kunst hinweg. Annemarie Burckhardt hat 1991 den ”falschen documenta-Katalog” herausgebracht, im Vorgriff auf die documenta des Jahres 1992. Wie man weiß, sind die documenta-Kataloge im Laufe der Jahre immer gehaltvoller, jedenfalls immer umfangreicher und schwerer geworden. Bei der letzten documenta mußte man drei Bände im Schuber mit sich herumschleppen. Diesen Auswuchs hat Annemarie Burckhardt aufs Korn genommen. Ihr documenta-Katalog besteht - statt aus drei Bänden - aus einer Schaumgummifüllung, die sich - statt in einem Schuber - in einer Stoffhülle befindet. Mit einem Wort: Es handelt sich um ein praktisches Sitzkissen, universell verwendbar, beispielsweise als Ausweis kultureller Beflissenheit im Heckfenster des Autos und natürlich ebenso bei einem strapaziösen documenta-Besuch. Aber wie reagierte die documenta-Leitung? Sie erwirkte eine einstweilige Verfügung. Der Name ”documenta” sei warenrechtlich geschützt, Annemarie Burckhardt dürfe ihren Artikel nicht unter die Leute bringen. Der Vorgang ist grotesk. Niemand hätte die beiden Katalogsorten verwechseln können, von einem wirtschaftlichen Schaden hätte also nicht die Rede sein können. Zudem hat Annemarie Burckhardt offenbar an Verfahrensweisen der Kunst dieses Jahrhunderts angeknüpft, an Strategien der Ironisierung, des Happenings, der Verfremdung. Die documenta-Leitung aber denkt unerbittlich unkünstlerisch, rein ökonomisch, juristisch. So geht eine Kunst-GmbH mit Kunst um.”

Wolfgang Welsch in SoBlau, München, 1992
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“(...) Zeitgeistmäßige Trophäenjäger dagegen hätten viel Geld gespart, wenn sie anstelle der dreibändigen Publikation zur documenta IX das Katalog-Kissen von Annemarie Burckhardt erworben hätten. Dieses genähte und gestickte Multiple konnte wie Cattelans Mini-me als Platzhalter im Bücherregal leben, aber auch der eigenen Bequemlichkeit dienen. Eine gute Idee also, die leider bei der documenta-Leitung schlecht ankam. Ein Verbot war jedoch nicht zu erreichen. Von der Intention berichtet der Waschzettel: “Kassel, im Oktober 1990. Konventionelle Kunstkataloge werden immer dicker und schwerer und können nicht mehr während der Besichtigung der Ausstellung mitgeführt werden. Vielmehr legt man sie nach der Anschaffung ins Auto zurück, gewöhnlich unter das Rückfenster. Als erster Kunstkatalog ist der documenta 9 Katalog speziell für diese Art der Verwendung gestaltet worden: Er ist dick, weich, im Leinen-Schuber mit von außen gut lesbarem Titel, Rücken Baumwolle, Inhalt Schaumstoff, und kann bei ermüdender Rückfahrt unter die Schläfe oder ins Kreuz gesteckt werden.”
Künstler, Institutionen, Kuratoren und unter Umständen auch Autoren haben die Wahl. Formal stehen alle Möglichkeiten offen. Es braucht allerdings Ideen, Einfühlungsvermögen und Geduld, um Brauchbarkeit, Individualität und Stimmigkeit in einem so wichtigen Druckerzeugnis zu vereinen.”

Michael Glasmeier in: Der Ausstellungskatalog, Hrsg. Institut für Kunstwissenschaft, Salon Verlag, Köln 2004
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