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Der documenta IX-Kissen-Katalog
Wie es zu einer Idee kommt, ist immer schwer zu sagen. Die Voraussetzungen deuten aber darauf hin, daß die Autorin dieses Kissens mehr an einen freundlichen Gruß als an Kritik dachte. Im Frühjahr 1990 reiste Annemarie Burckhardt zum ersten documenta Marathon-Gespräch nach Gent, zu dem der künstlerische Leiter der documenta 9, Jan Hoet, eingeladen hatte. Dort glaubte sie feststellen zu können, daß der Belgier Humor hat. Im darauf folgenden Sommer nahm Annemarie Burckhardt an der italienischen Ausstellung “Il Librismo” mit einem Buch-Kunstwerk teil. Sie dachte weiterhin über Bücher nach...
Zur gleichen Zeit rief James Lee Byars auf dem schweizerischen Furka-Paß die documenta 9 aus und lud eine Million Künstler dazu ein. Das wäre ein schwerer Katalog geworden! Und dann war da noch im gleichen Sommer 1990 die Sommerakademie an der Hochschule der Künste Saar, wo man über “Das Falsche ist das Echte” nachdachte. Annemarie Burckhardt war dort und so entstand ihr falscher echter documenta IX-Katalog.
Keineswegs war dabei geplant oder auch nur als schlimmste Möglichkeit ins Auge gefaßt, daß die Leitung der documenta 9 so auf den Kissen-Katalog reagieren werde, wie Annemarie Burckhardt es dann erleben mußte: Die documenta beauftragte ihre Rechtsanwälte, um den Kissenkatalog zu verbieten.
Wie läßt sich das verstehen? Eine Künstlerin, die zum Umkreis der Buch-Künstler gehört (Teilnahme an “Volùmina” und “Il Librismo”) macht einen vielsagenden documenta-9-Katalog: Ein Kissen. Und die documenta reagiert darauf nicht nur wie ein vergreister Schulmeister, sondern läuft sogar zum Advokaten.
Da sieht man langsam deutlicher, was zu Zeiten der documenta 7 unter Rudi Fuchs schon begonnen hat: Die einst avantgardistischste Kunstausstellung wird zum Dinosaurier der Kunst. Die rituelle Direktorenwahl durch neidische Gegenpäpste, der anschließende Triumphzug des Gewählten um die Welt - unter dem Vorwand der Suche nach junger Kunst, die orthodoxe Künstlerauswahl unter den Meistgezeigten, und schließlich die mehrbändigen seriös-unbrauchbaren Kataloge... Das alles hat sich seit zwanzig Jahren nicht geändert.
Das Katalog-Kissen gehört zu einer neueren Generation von Kunstwerken: diese Kunst experimentiert über die Aussage von Werken in unterschiedlichen Umgebungen oder Zusammenhängen, über die Veränderung eines Gegenstandes vor und hinter der Museumskasse. Neinneinnein, das ist nicht Kunstsoziologie, und niemand diskutiert hier über Galeristen, Preistreiberei und Geldanlagen. Allenfalls wird gefragt: was sagt uns ein Kunstwerk, wenn wir es im Banktresor besuchen?
Und so hilft die Künstlerin des Katalog-Kissens auch über die Kataloge nachzudenken: was tragen sie zur Bedeutung von Kunst bei? - zur Kunst, nicht zum Kunstverständnis; Annemarie Burckhardt ist keine Kunstpädagogin. Und was ist Kunst ohne Katalog, oder mit einem Kissen-Katalog? Der Besucher kann sich wenigstens darauf ausruhen; aber ist die Kunst selbst ohne ihren pseudogelehrten Apparat jetzt mehr geworden oder weniger?
Nicht, daß die Leitung der documenta 9 etwa Scheu gehabt hätte vor solchen Fragen, als sie das Kissen zu verhindern trachtete. Von solchen Nachdenkereien hält sie gar nichts. Sie denkt nur über die Frage nach, ob das Lächeln der Kissen-Betrachter wohl die Sponsoren vergrämt, die über die neue documenta-Halle hinaus noch weitere Präsentationsräume sponsoren sollen.
Das Buch “Der falsche documenta-Katalog” von Annemarie Burckhardt erzählt die ganze Geschichte des Kissens. Sie sagt viel über unsere kulturelle Gegenwart und heutige Ausstellungsmacher. Es erschien zeitgleich zu einer Ausstellung von Annemarie Burckhardt in der Galerie Martin Schmitz, in der auch das documenta IX Katalog-Kissen zum Selbersticken im Bastel-Set vorgestellt wurde.
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