Martin Schmitz Verlag

Wolfgang Müller

Das Chaos reist mit dem Schönen Wochenende

I. Punk - ein Annäherungsversuch

Ordnung und Unordnung

Westberlin wird in den frühen 1980ern von einer Punkband mit dem eigenartigen Namen KUKL heimgesucht. Die Band spielt im „Kuckuck“, einem Kulturzentrum in der Nähe der Kriegsruine des Anhalter Bahnhofs. Der „Kuckuck“ ist ein besetztes Haus, eines von insgesamt schließlich hundertundsiebzig, die im Westteil der Stadt existieren. Direkt gegenüber liegt ein eingezäuntes Gelände, auf dem zwischen Trümmerresten Sekundärvegetation seit 1945 ganze Arbeit geleistet hat: Schlingpflanzen, Akazien, Birken, Gestrüpp und hohes Steppengras. Vom zeitigen Frühjahr an, singt hier ohrenbetäubend eine Nachtigall. Sie singt, um ihr Revier zu markieren, und sie singt, um den Straßenlärm vor der Einzäunung zu übertönen. Durch das Gelände selbst führen ein paar dilettantisch planierte Straßen, auf denen ohne Führerschein Auto gefahren werden kann. Eigentümer des „Autodroms“ ist Harry Toste, alias „Straps-Harry“, ein Transvestit mit langen, gelb gefärbten Haaren, grellgrünen knielangen Strümpfen, die von roten Strapsen gehalten werden. Später ist er manchmal im „Café Anal“ zu sehen, einem lesbisch-schwulen Punklokal in Kreuzberg. Im Jahr 2004 stirbt Straps-Harry im Alter von 97 Jahren.
Durch eine Ausstellung mit dem Titel „Topographie des Terrors“ gerät die Geschichte des verwilderten Areals 1987 in ein breiteres Blickfeld. Nach mehreren gescheiterten Anläufen, wird im Herbst 2007 mit dem Bau eines Museums begonnen. Hier, in der Prinz-Albrecht-Straße befanden sich die Schreibtische Himmlers, Heydrichs und Kaltenbrunners und damit die Zentralen nationalsozialistischer Verbrechens- und Repressionspolitik: Das Geheime Staatspolizeiamt, die SS-Führung und das Reichssicherheitshauptamt.

Places in Transition

In dieser Umgebung spielt also seinerzeit die Punkband KUKL. Sie erweist sich nicht gerade als Kassenmagnet. Und das, obwohl sie aus Island kommt - oder besser gesagt: weil sie von dort kommt. Die Sängerin der Band heißt Björk und es ist Max Goldt zu verdanken, dass dieser Auftritt aus den frühen 80ern überliefert ist. Er ist einer der knapp zwanzig Zuschauer und schildert, wie eine Frau kurz vor dem Konzert von der Toilette zurückkehrt: „Das ist ja grotesk hier. Auf dem Frauenklo ist eine schwangere Zwölfjährige und pinkelt im Stehen!“
Tatsächlich hat Björk bereits in Island heiße Diskussionen ausgelöst, als sie hochschwanger die Bühne betritt. Ein Augenzeuge aus Reykjavik, der damals 14-jährige Irokesen-Punk Jón Atlason, schildert das Ereignis in der taz.“ Heute lebt Jón in Wien und ist Isländischlektor an der Universität. Und Björk ist ein berühmter Weltstar, der die Olympiade in Athen eröffnet. Ohne Punk in Island würde heute niemand den dänisch-isländischen Künstler Olafur Eliasson als Isländer bezeichnen. Seit Punk dürfen Isländer nämlich auch Musiker und Künstler sein - nicht nur Schriftsteller, wie vorher.

Besetzte Räume, materiell und immateriell

Doch welche Räume eröffnet Punk in der Frontstadt Berlin? In der hochsubventionierten Westhälfte regiert eine konservative Politikerkaste, die den Kalten Krieg nicht nur gegen den Osten ausficht, sondern sich einer feindlich gesinnten Jugend, zahlreichen sogenannten Aussteigern, Freaks, Anarchisten und Verweigerern ausgesetzt sieht. Während es einerseits kaum bezahlbare Wohnungen gibt, lassen Spekulanten reihenweise Häuser verfallen. Trotzdem zeigen die Berliner Medien wenig Verständnis für die darauf folgende Welle der Hausbesetzungen. Stattdessen wird der „Schutz des Eigentums“ beschworen. Eberhard Diepgen, der Regierende Bürgermeister von Berlin erfindet schließlich für alle, die er dem alternativen Milieu zuordnet, den Begriff des „Anti-Berliners“. Ein fruchtbarer Nährboden für jede Art von „Parallelkultur“.
Hinter den Hausbesetzern stecken nicht selten finanziell klamme Studenten und motivierte Arbeitslose. Joseph Beuys solidarisiert sich, als Kunststudenten ein Haus seines Sammlers Dr. Marx „instandbesetzen“. Der prominente Pate schenkt ihnen Zeichnungen für eine „Soli“-Ausstellung. In dieser Atmosphäre entstehen die alternative tageszeitung, zahlreiche Fanzines , Undergroundgalerien, Kinos, Clubs und kleine, von Musikkonzernen unabhängige Plattenfirmen. Die Szene speist sich aus den unterschiedlichsten Gruppen, wie den Alternativen, von den Punks verächtlich als „Müslis“ tituliert, Totalverweigerern, die in Westberlin der Wehrerfassung entgehen und Aktivisten der Frauen-, Lesben- und Schwulenbewegung.
Nur mit einem goldenen Stringtanga bekleidet, tritt der Sänger der Berliner Band „Didaktische Einheit“ auf die Bühne. Heute ist Hans-Werner Marquardt Kulturchef der Berliner BILD-Schwester BZ. Die aktuellen Lieblingspunks von BILD sind Campino und Ben Becker. Sie haben damit den verstorbenen Entertainer Harald Juhnke abgelöst. Die besetzten Häuser wurden meist legalisiert, oft von den Besetzern selbst gekauft.

Der wahre und/oder falsche Heino

Doch waren Campino und seine Band Die Toten Hosen wirklich jemals „Punk“? Oder war es doch mehr die Frisur? Wie entscheidend die Frisur sein kann, beweist jedenfalls ihre Vorgruppe: der „wahre Heino“. Jahrelang tritt Norbert Hähnel, Inhaber des Kreuzberger „Scheißladen“ mit blond gefärbten Haaren und großer Sonnenbrille als Klon des deutschen Volkssängers auf. In seinem Laden kauft Filmemacher Rainer Werner Fassbinder 1982 selbstkopierte Tapes und LPs für ein Filmprojekt.
Die Biographie des „wahren Heino“ klingt schlüssig: So sei er, Norbert Hähnel eigentlich der echte Heino. Der Mann aber, der überall als „Heino“ zu sehen sei, wäre eine Kopie, eine Fälschung der Plattenfirma. Er, der „wahre Heino“ habe sich geweigert, in Südafrika zu spielen, solange das Apartheidsystem bestehe. Die Plattenfirma habe ihn daher umgehend durch ein Double ersetzt, das jetzt unter seinen Namen in Südafrika auftrete. Der „wahre Heino“ treibt sein Spiel mit den Identitäten so lange, bis Heino alias Heinz Georg Kramm seinen unerwünschten Doppelgänger 1985 vor Gericht verklagt. Der Unterlegene weigert sich, die Strafe zu zahlen und geht für einige Wochen ins Gefängnis. Hier zeigt sich: Der wahre Punk ist gefährlich und amüsant zugleich. Und weil er die Gegenwart nicht nur im Kopf, sondern auch in seinem Körper spüren will, stößt er ständig an die Grenzen der Freiheit, die doch angeblich grenzenlos ist.

Speichel und Margot

Auch im Ostteil Berlins gibt es zahlreiche Beispiele des subversiven und affirmativen Spiels mit der Wirklichkeit. So existiert im Umfeld der Szene um den Dichter Bert Papenfuß ein Punk namens „Speichel“. Dieser nennt seinen kleinen Hund „Margot“, der Vorname der DDR-Ministerin für Volksbildung Margot Honecker. „Komm Margot, Platz! Brav, gib Pfötchen!“ Welcher Volkpolizist hätte Speichel mit welcher Begründung verhaften können? In einem Dokumentarfilm berichten Punks aus der DDR, wie sie ein russisches Luxusauto, einen Wolga mieten und in voller Ausrüstung, mit gefärbten Haaren und Hundehalsbändern auf den Marktplatz einer Kleinstadt fahren, wo ein Aufmarsch zum 1. Mai stattfindet. Sie kurbeln die Fenster herunter und winken mit roten Fähnchen den verdutzten Rednern zu. Reflexartig winken diese zurück.
So etwas macht sprachlos: Im Lexikon der populären Musik, erschienen 1987 in der DDR gibt es endlich auch ein Punk-Kapitel. Das Phänomen wird als Folge des kapitalistischen Systems dargestellt: Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit = Punk. In den 271 Zeilen existiert konsequenterweise nicht eine einzige DDR-Punkband. Und aus einer „antikapitalistischen Westberliner Punkband“ namens „Die Tödliche Doris“ wird „Die Tödliche Dosis“, ein genialer Druckfehler.

Ästhetik & Widerstand

Ähnlich wie im Westen, so wird auch im Osten der offiziell wahrgenommene Protest durch den Typus des bärtigen Klampfenbarden repräsentiert. Doch Wolf Biermann, dessen persönliche Kontakte zu Margot Honecker wohl ein offenes Geheimnis genannt werden müssen , trifft nicht unbedingt die Ästhetik der Punk-Revolte. Als er 1976 von Jakob Moneta zum Konzert nach Köln eingeladen wird, folgt seine Ausbürgerung aus der DDR. Hätte er sein früheres Nahverhältnis zur Volksbildungsministerin der DDR musikalisch verarbeitet, beispielsweise eine Band gegründet mit dem Namen „Liebe & Ekel in der Nomenklatura“, wäre Biermann vielleicht gar Bestandteil der gerade entstehenden Punkbewegung geworden. Im Punk spielt Ekel eine wichtige Rolle. Seine Folgen äußern sich in Bandnamen wie Rotzkotz, Kotzübel oder Brechreiz. Ekel gilt hier allerdings mehr dem aalglatten Körper der Bourgeoisie. Und er bezieht sich auf Eigenschaften, die als „spießig“ und „abstoßend“ empfunden werden: Opportunismus, Verlogenheit, Selbstgerechtigkeit.
Wenn heute Biermann als engagierter Fürsprecher von George W. Bushs Irak-Krieg das Ehrenbürgerrecht der Stadt Berlin für seinen Mut und Widerspruchsgeist bekommt, wäre es eigentlich an der Zeit, nun endlich auch ein Denkmal für den unbekannten DDR-Punk zu errichten. Für letzteren war eine Karriere in der DDR undenkbar, sehr wahrscheinlich drohten ihm willkürliche Verhaftung und monatelanger Knast. Doch das subversive und affirmative Spiel mit der Realität hat zur Folge, dass die politische Wirkung und der ästhetische Einfluss, den Punk in der DDR hatte, nicht nur unterschätzt und geleugnet, sondern auch leicht verkannt wird.

Hakenkreuz: Tabu und Provokation

Neben der Betoncombo gilt die Westberliner Band Die Ärzte bis heute als die authentische Punkband. In den frühen 80ern spielen sie in den Splatterfilmen von Jörg Buttgereit mit. Selbstgemachte Super-8-Filme genießen in der Punkszene Kult-Status und laufen in Self-Made Kinos wie dem Frontkino, Risiko, KZ36 und dem KOB. Hier werden erstmals Tabuzonen radikalsubversiver Form berührt, die in Deutschland bis dato für unbegehbar galten. In der Punkszene drängt die deutsche Vergangenheit in neuer Gestalt ans Licht. Die faschistischen Symbole werden angeeignet und umgewertet. Sex Pistols Gitarrist Sid Vicious, der 1979 mit dem Hakenkreuz auf seinem T-Shirt in „The Great Rock' n Roll Swindle“ die Boulevards von Paris langmarschiert, macht es vor. In Westberlin entsteht durch Jörg Buttgereits 1982 uraufgeführten „Blutige Exzesse im Führerbunker“, der erste deutsche Hitler-Film, der weder Dokumentarfilm, noch aufklärender Spielfilm, noch mystisches Kunstwerk sein möchte. Buttgereits Film ist völlig respektlos, Trash pur.
„Die jüngeren unter ihnen werden mich vielleicht nicht mehr kennen...“, beginnt Adolf Hitler seinen Monolog, hinter dessen Maske sich der „wahre Heino“ verbirgt. Die reanimierte Eva Hitler, geborene Braun, kastriert und zerhackt ihren Geliebten anschließend gemeinsam mit einem aus Leichenteilen zusammengesetzten „germanischen Zuchtbullen“, verkörpert von Buttgereit: Die erste deutsche Hitler-Komödie der Nachkriegszeit.
Auch Sid Vicious läuft mit dem Hakenkreuz T-Shirt erneut durch die Straßen - in Westberlin. Hauptdarsteller: Oskar Dimitroff, zwei Jahre alt. Der Filmkritiker Dietrich Kuhlbrodt, gleichzeitig als Staatsanwalt am Hamburger Landgericht für die Verfolgung von Verbrechen der nationalsozialistischen Zeit zuständig, stellt 1982 den Super-8-Film den Lesern in der Frankfurter Rundschau vor, präsentiert ihn später als Alternative zum Epos „Der Untergang“.

Tabubruch: Von Subversion zu Affirmation

Mit der radikal subversiven Aneignungsform der Nazisymbole, kommen die Neonazis ebenso wenig klar, wie die Alternativen. Während Jörg Buttgereit seine Kenntnisse vertieft und sich zum Horror- und Monsterfilmexperten entwickelt, schöpfen einige Jahre später Aktionskünstler wie Christoph Schlingensief und der Maler Jonathan Meese aus dem Fundus der im Punk aufgeworfenen Tabubrüche und Sujetspiele. Als „Neo-Punks“ oder „Kunst-Rebellen“ füllen sie nun affirmativ in der Postmoderne die Leerstelle, die der Westen durch die Behauptung seiner unbedingten Überlegenheit verdeckt: Alles nur ein Spiel mit Zeichen und Symbolen - nichts ist verboten! Doch Punk hat die Gesellschaft tiefergreifender beeinflusst, als hier deutlich wird. Durch ihre schnelle, freundliche Assimilation in den Mainstream bleibt den Neo-Punks kaum Zeit, aus den gesammelten Erfahrungen eine aktuell subversive Ästhetik zu entwickeln, die über den permanent forcierten „Skandal“ hinausweist. Dass Schlingensief nun ähnlich malt wie Meese und Meese Theaterstücke an der Berliner Volksbühne inszeniert, ist Ausdruck einer gewissen Beliebig- und Austauschbarkeit der Oberflächen. Die äußeren Formen der Subversion und Affirmation sind ständigem Wandel unterworfen: In ihrer Geste der Verleugnung von Grenzen der persönlichen Entfaltung scheinen heute aber alle irgendwie „Punk“ zu sein.

Punk ist nicht gleich Punk: Wollita, die (Post)Punkerin

Im Jahr 2004 fahren die Berliner Boulevardzeitungen BILD und BZ schwere Geschütze gegen eine angebliche „Kinderpornoausstellung“ im Kunstraum Kreuzberg auf. Zur Hauptdarstellerin küren sie die von Françoise Cactus gehäkelte, lebensgroße Puppe „Wollita“. Diese hat sie nach dem Vorbild einer gewerblichen Sexannonce aus der BZ gehäkelt: „Geile Wollmaus (18), mache alles mit!“ Eine absurde, über Wochen andauernde Hetzkampagne beginnt. Mit unheimlichem Erfolg: Erstmals seit 1945 demonstriert eine Gruppe organisierter Jungnazis im Bezirk Kreuzberg. Auf Transparenten und Flugblättern übernehmen sie die Schlagzeilen der Boulevardmedien und deren Forderung nach sofortiger Schließung der Ausstellung: „Wenn „Kunst“ geeignet ist, die perverse Phantasie von Kinderschändern zu wecken, dann gehört diese „Kunst“ verboten!“
Zwei Jahre darauf wird wegen einer befürchteten Islamistendrohung die „Ideomeno“-Aufführung an der Deutschen Oper Berlin abgesetzt. Besorgt um unsere Freiheit, bitten BILD, BZ und Tagespiegel Prominente um Stellungnahme. Christoph Schlingensiefs Kommentar: „Wir können von einer Kultur, die 500 Jahre jünger ist, als das Christentum, nicht verlangen: Burka aus, Minirock an, bitte schnell.“ Statt also „unsere“ Paranoia zu analysieren und ihre Folgen zu thematisieren, schreibt sich Schlingensief in den Mainstream ein, der im Namen des „zivilisierten Westens“ die eigene grenzenlose Freiheit vorzugsweise am unbekleideten Körper der Frau demonstriert. Im Jahr 2007 verleiht die BZ dem „Kunstrebellen“ Jonathan Meese ihren Kulturpreis.
Verzweifelt kämpft seit Jahren das BZ-Medienopfer, die (Post)Punkerin „Wollita“ darum, diesen Kulturpreis zu erhalten - als kleine Entschädigung. Sie hat sich inzwischen sogar extra eine elegante Abend-Burka aus Wolle häkeln lassen, um so den Kulturfreunden von BILD und BZ ganz neue, intellektuelle und ästhetische Erkenntnishorizonte zu ermöglichen.
„Punks are not dead!” riefen die Berliner Altpunks trotzig. Um das aber zu gewährleisten, müssen die ausgeblendeten Körper der Post-Punks wahrgenommen, die Frisuren immer wieder überholt werden. Das, was sich Punk nennt, könnte dann zeitweise unsichtbar werden, erscheinen als nackte, gehäkelte Wollpuppe oder zarte, illuminierende Elfe.

II. Punk: konkret...

Die kreativste Zeit des Punk in Westberlins spielt sich zwischen 1978 und 1984 ab. Zum einen gibt es die „Hardcorepunks“ und ihre Bands wie Betoncombo und Ätztussis. Dann eine unüberschaubare, eher experimentelle Musikszene, die sich aus jungen Künstlern und Intellektuellen speist. In Berlin überschneiden, mischen und befruchten sich diese Szenen weit mehr als anderswo. Insofern sind die Berichte von harten Straßenkämpfen zwischen den unterschiedlichen Gruppen, die heute manch Punkbuch romantisieren, vielleicht etwas übertrieben. Wild durcheinander ist die Mischung der Szenen, die sich in Kneipen und Bars begegnen und neue Räume besetzen: im Chaos, Risiko, Shizzo, Exzess, Dschungel, Frontkino, KOB, Penny Lane, SO 36, in den späten 80ern dann im Kumpelnest 3000 und Ex'n Pop.

Rote Rosen - mit Stacheln

Im maroden, muffigen Westberlin herrscht in den 80ern durchgehend Party. Es ist die einzige Stadt Europas, die keine Sperrstunde kennt. Um vier Uhr morgens sitze ich mit dem Ostberliner Autor Heiner Müller in Kreuzbergs proletarischer Absturzbar „Rote Rosen“. Müller Ost und Müller West plaudern über die „Genialen Dilletanten“. Das Festival, das am 4. September 1981 im Tempodrom, einem großen Zirkuszelt an der Berliner Mauer stattfand, erwies sich mit über 1200 Besuchern als ein Überraschungserfolg. Denn das, was sich dort erstmals auf der Bühne versammelte, war genau das, was die professionellen Rockmusiker naserümpfend ablehnten. All die dilettantischen Krachbands, die sich aus dem Punk Westberliner Prägung entwickeln. Auf der Bühne stehen Gudrun Gut von Malaria, Frieder Butzmann, Din-A-Testbild, die Einstürzenden Neubauten, Christiane F., Die Tödliche Doris, Frank Xerox, heute bekannt als DJ WestBam. Der Filmer Wieland Speck, heute Leiter des Panoramas bei den Berliner Filmfestspielen moderiert die „Große Untergangsshow“. Drei Jahre zuvor hatte er im letzten Film mit Marlene Dietrich „Schöner Gigolo, Armer Gigolo“ einen ebensolchen gespielt. Vor der Bühne wirft Dr. Motte mit gefüllten Bierdosen auf den Moderator. Man kann also sagen, dass selbst die Anfänge des Techno und der Loveparade hier zu sehen, ja: körperlich zu spüren sind. Das musikalische Ergebnis auf der Bühne klingt oft ganz erbärmlich, ärmlich, laienhaft und unprofessionell. Selbstgebaute Instrumente oder therapeutisches Brüllen bis zur Heiserkeit, dazwischen Seemannslieder, schief gesungen von „Zwei Mädels und das Meer“. Und trotzdem erweist sich die musikalische Suppe, die da serviert wird, als gehaltvoll und folgenreich. In seinem Diplomatengepäck schmuggelt Heiner Müller zwanzig Exemplare des Merve-Manifests „Geniale Dilletanten“ in den Osten der Stadt und verteilt sie in der Szene um den Prenzlauer Berg. Hier fallen sie auf fruchtbaren Boden, denn im Ostteil ist Improvisation angesagt. Experimentelle Bands basteln ihre Instrumente oft aus Resten zusammen und experimentieren mit Schrott.

Glam und Glitter

Aus dem Glamrock, der Öffnung von Geschlechtergrenzen und Sexualität speisen sich weitere Elemente, die in den Punk fließen. Als europaweit erste Schwulenkneipe, die sich ohne zugemauerte Fenster und ohne Türkontrolle zeigt, eröffnet im Jahr 1977 das Café „Anderes Ufer“ in der Schöneberger Hauptstraße. Direkt nebenan, Hausnummer 155 wohnen David Bowie und Iggy Pop. Wie Heidi Paris und Peter Gente vom Merve-Verlag gehören sie zu den Gästen des Cafés. Manchmal bringen sie auch den französischen Philosophen Michel Foucault mit. Der Maler Salomé spiegelt die erotische Atmosphäre, wenn er mit seiner Band „Geile Tiere“ halbnackt in der Diskothek „Dschungel“ auftritt. Seine Performance, bei der er als „Bitch“ Luciano Castelli am Hundehalsband spazieren führt, wirkt aus heutiger Sicht wie eine queere Umsetzung von Valie Exports berühmten Gassigang mit Peter Weibel. Trotz der revolutionären Tat, eine schwule Kneipe öffentlich sichtbar zu betreiben, erweisen sich die ästhetischen Vorstellungen der Inhaber als weit weniger revolutionär. So werden die alten, spermagetränkten Bettlaken, die Blixa Bargeld wie Reliquien an die Wände hängt, umgehend entfernt, wie auch die untragbaren Modelle aus seinem Modeladen „Eisengrau“, Pullover mit riesigen Maschen. Oder waren es doch eher Löcher? Die Seerosenbilder von Salomé haben es in diesem Ambiente etwas leichter. Ganz in der Nähe der Selbsthilfegalerie am Moritzplatz, dem Zentrum der „Neuen Wilden“ , zu denen auch Rainer Fetting, Elvira Bach, Bernd Zimmer und Helmut Middendorf zählen, zelebriert Klaus Theuerkauf mit EndArt in der Kreuzberger Oranienstraße dann so etwas, was die Szene als „Punk-Kunst“ wahrnimmt: Statt Gewissheit und Propagierung von Wahrheit, die kreative Gestaltung der Destruktion. Aus Farbe, Abfall, Obszönität und der Überschreitung politischer Schamgrenzen wird ein Körper geschaffen, der Berlin West, die „Welthauptstadt des Heroins“, so David Bowie 1977, von anderen Städten ziemlich stark unterscheidet.

Punk trifft Kunst

In der Oranienstraße liegt auch das SO 36, der Kreuzberger Punkclub. Hier tritt Pächter Martin Kippenberger 1978 in einen verhängnisvollen, aber inzwischen legendären Dialog mit der Jugend. Als er die Getränke- und Eintrittspreise erhöht, gerät er mit „Ratten-Jenny“ ins Gehege. In der Folge dieser Auseinandersetzung demoliert sie sein Gesicht. Er dokumentiert sein bandagiertes Antlitz und nennt das Werk: „Dialog mit der Jugend.“ Anschließend zieht er nach Paris, wo die Kunst nicht so heftig mit dem Punk kollidiert . Eigentlich führt Kippenberger den ersten direkten Dialog zwischen Kunst und Punk: Ratten-Jenny ist nämlich nur drei Jahre jünger als er.

Berliner Realismus

Die Vielseitigkeit der unabhängigen Musikszene strahlt über Berlin hinaus. Selbst der verstaubte Berliner Senat nimmt das allmählich wahr und installiert einen „Rockbeauftragten“, welcher Förderungsgelder verteilt. Die geadelten Newcomer verschwinden in der Regel umgehend in der Versenkung. Genau wie in Ostberlin sind die Kunstinstitutionen Westberlins auf Linie. Gefördert wird fast ausschließlich Realismus: sozialistischer Realismus im Ostteil, kritischer Realismus oder die Wilde Malerei, neoexpressiver Realismus im Westteil. Zu den wenigen Ausnahmen zählt die seit 1964 bestehende Galerie René Block mit Ausstellungen von Künstlern wie Joseph Beuys, Gerhard Richter, Sigmar Polke und Nam June Paik. Daneben existieren noch die Galerie Gianozzo, die Galerie Jes Petersen, die Galerie Eisenbahnstraße und das Künstlerhaus Bethanien, wo auch „nichtrealistisch“ wirkende Künstler ein Forum finden. Ursula Block führt schließlich seit 1981 in ihrer Galerie „GELBE Musik“ bildende Kunst, Punk, Neue Musik und Avantgarde zusammen. Es ist bedauerlich, dass die auf Berliner Kunst spezialisierte Berlinische Galerie, so gut wie kein bedeutendes Dokument, kein Performance-, Konzertvideo, keine Super-8-Filme oder Kunstwerk aus dem Umfeld der Punk- oder „Geniale Dilletanten“-Szene erworben hat. Da trifft es die Ost-Szene besser, die mit dem Leipziger Galeristen Judy Lybke nach dem Untergang der DDR 1989 immerhin einen sorgfältigen Archivar ihres gesamten Untergrund-Super-8 Materials gefunden hat.

Nina Hagen, die Punk-Ikone

Im Zuge der Biermannausbürgerung setzt Resignation in der DDR ein. Auch seine Stieftochter Nina Hagen verlässt die DDR gen London. Zu ihren Verdiensten gehört die Versöhnung der Alternativ- mit der Punkszene im Westen. In ihrer Musik verbindet sie die Forderungen der Frauenbewegung nach Selbstbestimmung mit rotzig-punkigen „Fuck Off!“-Gesten. Obwohl ihre Musik insgesamt konventionell und eklektizistisch ist, wird sie fortan im bürgerlichen Feuilleton das Bild der Berliner „Punkerin“ prägen. Zu ihren Vorbildern, verrät sie in einem Interview, zähle Valeska Gert, die Mrs. Peachum in Pabsts Dreigroschenoper Verfilmung von 1931. Tatsächlich erinnern Nina Hagens Frisur, die schwarzen Lippen, Schminke, Gestik und der Einsatz ihrer Grimassen sehr an diese beeindruckende Tänzerin, Autorin und Künstlerin.

III.: Punk in Vergangenheit und Gegenwart

Valeska Gert - Ur-Punk

Valeska Gert ist der erste Punk von Berlin, ein Proto-Punk. In den 20ern tanzt sie Kupplerinnen, Prostituierte, den modernen Straßenverkehr - als getanzter Film. Und sie tanzt ausdrücklich den Filmschnitt mit. Während Hitler „Mein Kampf“ veröffentlicht, lautet der Titel ihrer ersten Biographie lapidar „Mein Weg“ . Valeska Gert arbeitet mit G.W. Papst und dem Experimentalfilmer Walter Ruttmann. Sie fordert eine Musik, die nur aus Geräuschen besteht. Ihr körperlich-grotesker Tanz muss im zeitgenössischen Kontext mit seiner faschistoiden Fetischisierung körperlicher Formharmonie á la Leni Riefenstahl als fremdartig oder unverstanden subversiv wahrgenommen worden sein. Den Dadaisten ist Valeska Gert viel zu prosaisch, zu direkt, den Surrealisten viel zu bewusst und konkret. Beiden wohl zu emotional-körperlich und obszön - jedenfalls von einer weißen Frau. In einer Hetzschrift von Goebbels Propagandaministerium über die „Entartung“ in der Modernen Kunst taucht sie als einzige deutschjüdische Künstlerin mit ihrem „grotesken Tanz“ gleich zweimal im Bild auf. Spät emigriert sie in die USA, wo sie sich sogleich mit der Exilorganisation anlegt, die sie in einem Schreiben auffordert, Gehässigkeiten gegen ihr Asylland zu unterlassen. Ihr Kommentar: In Deutschland habe ich unter den Nazis die Klappe aufgemacht, warum sollte ich in einer Demokratie schweigen? In New York betreibt sie die Beggar Bar.

Von der Bettlerbar zum Ziegenstall

Nach dem Krieg kehrt sie in das zerstörte Berlin zurück und eröffnet im Westteil die „Hexenküche“. Sie tanzt und singt die „KZ-Aufseherin Ilse Koch“, eine Nummer, die etwa dreißig Jahre zu früh kommt. Das Westberliner Publikum möchte nur antikommunistisches, sozialdemokratisches Kabarett sehen, klagt sie. Auch die Behörden schikanieren sie, wo es nur geht. Frustriert zieht sie nach Sylt und eröffnet dort den „Ziegenstall“, ein Lokal, das von der Einrichtung her gut und gern ein Punkclub der 80er hätte sein können. Stroh in Krippen, alte Möbel, Graffiti. Im Ziegenstall werden die Gäste gemolken und meckern, stellt Valeska Gert befriedigt fest. Kleine Gastrollen erhält sie von Frederico Fellini und Rainer Werner Fassbinder . Ulrike Oettinger dreht mit ihr und Tabea Blumenschein 1975 den experimentellen Film „Die Betörung der blauen Matrosen“, Volker Schlöndorff 1977 einen Dokumentarfilm über ihr Leben. Gleich nach Valeska Gerts Tod im Jahr 1978 lässt ihr Erbe, der Journalist Werner Höfer den Ziegenstall abreißen. In letzter Minute wird der Nachlass gerettet, der bereits auf dem Müll liegt.

Pogo, Berliner Art

Im Grunde hat Valeska Gert den Pogo Berliner Art erfunden. Das ist die Variante des englischen Punktanzes, bei dem der einzelne Tänzer wie ein Gummiball in die Luft springt, um mit seiner ebenfalls hüpfenden Umgebung im Widerstand zusammenzuprallen. Durch ihre Reflektion der Gegenwart, die sie in und mit ihrem Körper unmittelbar ausdrückt, ihre Ignoranz sowohl gegenüber den Kanonisierungen in der Kunst, wie auch den körperlich habituellen Mustern ihrer Zeit, wird Valeska Gert heute zumeist vereinfachend als Tänzerin bezeichnet. Genauso gut könnte sie in den Kunsthallen als Vorläuferin der Performance rezipiert werden, als lebende Skulptur oder einzigartiges Gesamtkunstwerk. Immerhin wurde im November 2006 eine kleine Straße in Berlin-Friedrichshain nach ihr benannt. In Sylt selbst erinnert nichts an diese herausragende Künstlerin.

Chaostage auf Sylt

Walter Benjamin schildert die spezifischen Veränderungen der Körperwahrnehmung in der Großstadt. Eine enorme Instrumentalisierung und Organisationsleistung sinnlicher Wahrnehmungsreize ist Bedingung für technisches Überleben im beschleunigten Alltag. Im Punk äußert sich der Versuch, den Körper und seine Interaktionen mit der Umgebung auf andere Weise unmittelbar spürbar und bewusst zu machen. Dazu gehört die Erkenntnis: Ständige Unordnung ist nötig. Ohne Wahrnehmung kein Widerstand.
Heute ist die Insel Sylt durch die massenhafte Anhäufung geschmackfreier, postmoderner Feriensiedlungen und rigidem Normalitätsdruck ästhetisch und substanziell eine ziemliche Einöde. Als die Deutsche Bundesbahn Werbung für ein preisgünstiges „Schönes Wochenendticket“ macht, kämpft die Sylter Kurverwaltung heftig dagegen. Grund: Angst vor einem Ansturm finanziell nicht so gut betuchter Touristen. Für die durch den Hindenburgdamm mit dem Festland verbundene Insel soll das Sonderangebot auf keinen Fall gelten. Das hat Folgen: Am 27. März 1995 stürmen massenhaft Punks nach Sylt, um dort ihre „Chaostage“ abzuhalten. „Punks are not dead!“ skandieren sie. Bürgermeister, Unternehmerverein und Kulturbeauftragte der Insel reagieren entsetzt auf die Invasion. Im Widerstand lässt sich nicht nur der Körper spüren. Manchmal entsteht dabei auch Kunst.

Aus: Punk. No One is Innocent: Kunst - Stil - Revolte, KUNSTHALLE Wien, Gerald Matt, Thomas Miessgang (Hrsg.), Verlag der Kunst, Nürnberg 2008

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