Martin Schmitz Verlag

Die Tödliche Doris Band 1

“Solange Ihr, Eure Kinder und Kindeskinder noch dem vermeintlichen Wissen nachhängt, daß Kunst nur daran zu messen sei, ob du das als Kunst Dir vorgestellte nachmachen kannst, solange wird auch dieses Büchlein in den Regalen an sich wohlsortierter Buchhandlungen dahinweinen, Neid entwickelnd auf die wenigen Exemplare, die von Menschen erworben wurden, die Dank günstiger Sozialisationsumstände für dieses Gebiet des Lebens Sichtweisen und Gedankenfreiräume entwickeln, bewahren und benutzen können. Die den Begriff Das ist Kunst ebenso handhaben wie die Aussage Das schmeckt gut. Die Tödliche Doris bietet Dir eine Möglichkeit zu überprüfen, wo Du in dieser Hinsicht stehst.”

Michael Zolondek in Hype 10/1992
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Die Tödliche Doris Band 3 - Kunst

“Die hier mit sehr viel Bilddokumenten angereicherte Geschichte der Berliner Gruppe um Käthe Kruse, Wolfgang Müller und Nikolaus Utermöhlen verdeutlicht, daß die Arbeit der Doris immer eine Arbeit der Dezentralisierung gewesen ist - nicht Vermischung der einzelnen Disziplinen, sondern eine Arbeit, die sich in keine Disziplin so richtig einpassen will. Weder U noch E, weder Pop noch Avantgarde, nicht richtig Kunst nicht ganz Kitsch, nicht so ganz Performance... und nur begrenzt Malerei. Beziehungsweise: All das zusammen. Zum Glück fördert der Galerist und Verleger Martin Schmitz diese Arbeit seit einigen Jahren, denn es ist mit Sicherheit eine Arbeit, die sich ökonomisch kaum behaupten kann. Die Tödliche Doris hat einen Weg gewählt, anhand dessen die hermetische Abgeschlossenheit, die Undurchlässigkeit von Disziplinen und also Szene und Klüngeln - am allerschlimmsten: der Klüngel der Kunstszene - verdeutlicht werden. Darüber, wie die verschiedenen Szenen mit dem Fremdkörper Die Tödliche Doris in all den Jahren umgegangen sind, erzählt das Kunst-Buch einschließlich dokumentarischem Anhang (...) Insofern ist Doris-Arbeit vor allen Dingen sehr erhellend. Aufklärung hat sicher etwas mit Subversion zu tun, geht ihr zumindest voraus.”

Martin Büsser in testcard 8, Mainz 2000
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“Kurzweilig und ohne peinlich Interpretationsversuche erzählt Monika Reich, ehemalige Pressesprecherin von Die Tödliche Doris, was sich bei den Performances der Gruppe vor und hinter der Bühne abgespielt hat. Verblüffend sind der Ideenreichtum und das Improvisationstalent der Künstler: Für ein Konzert in München etwa baten sie die Veranstalter, einen Film über die Stadt zu drehen. Weil der Streifen aber nach der Entwicklung schwarz war, ließ sich Wolfgang Müller von der Kamerafrau erzählen, was sie aufgenommen hatte. Beim Konzert lief der Film dann schwarz über die Leinwand - zusammen mit den Beschreibungen der Kamerafrau.”

Sabine Kunz in art kunstmagazin 9/2000, Hamburg
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Die Tödliche Doris Band 2 - Musik

“Aus diesem Grund erklärt Thomas Groetz, daß Doris aus dem Geist des Punk entstanden ist. Akribisch und erhellend geht er auf jede Musikveröffentlichung ein und zeichnet damit ein Bild von Punk, das nur wenig mit dem Tralala der Toten Hosen gemeinsam hat. Punk meint hier die Kunst der Selbstaneignung: Dinge selbst in die Hand zu nehmen und No Future ins Positive umzukehren - wenn schon die Gesellschaft kaputt ist, muß nicht noch der Künstler darauf warten, von dieser kaputten Gesellschaft akzeptiert zu werden. Passend zum inzwischen geflügelten Beuys-Satz, daß jeder Mensch ein Künstler ist, sind die lärmigen Ausbrüche der Doris alles andere als Punk-Klischees von Verzweiflung und Hass gewesen. Ihnen haftet etwas Befreiendes an, das beinahe (wäre der Begriff nicht so abgeschmackt) als Therapie bezeichnet werden kann.”

Martin Büsser in Junge Welt, Berlin, 23.3.2000

“Anfang der achtziger Jahre erhob sich aus der Asche von Punk und Neuer Deutscher Welle eine Audiokunstbewegung selbsternannter Genialer Dilletanten. Zwischen vielen Eintagsfliegen reifte der ein oder andere atonale Phoenix. Neben den Neubauten und Malaria zählte dazu in Berlin gewiss Die Tödliche Doris, ein multimedial arbeitendes Projekt der Kunsthochschulabsolventen Wolfgang Müller und Nikolaus Utermöhlen. In der Tradition von Dada, Situationisten und Fluxus lieferte Doris neben schrägen Musique-concréte-Experimenten in programmatischen Manifesten auch den theoretischen Überbau und bediente sich für die liebevoll abstrusen Verpackungen und Klangmedien bei historischen Avantgarden von Duchamp bis Beuys. In einem lesenswerten Buch unternahm Thomas Groetz nun den offensichtlich lustvollen Versuch, das akustische Gesamtwerk der Doris musikologisch, philosophisch und biographisch zu analysieren, interpretieren, re- und dekonstruieren.”

Kai Schmidt im tip, 9/2000, Berlin
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Die Tödliche Doris Band 4 - Kino

Punk, die 80er Jahre und alles Darüberhinausgehende
Im März diese Jahres zeigte das Berliner arsenal Kino in drei Veranstaltungen das gesamte filmische Werk von Die Tödliche Doris – vier Stunden digitalisiertes Super-8 Filmmaterial mit den Klassikern „Das Leben des Sid Vicious“, „Material für die Nachkriegszeit“, „fliegt schnell – laut summend“ und nie gezeigte Streifen aus den Jahren zwischen 1980 - 1987. Sieben Jahre sollte es die Gruppe geben, das Projekt war von den Mitgliedern auf diesen Zeitraum begrenzt worden.
Nun liegt – bereits als vierter Band der Reihe – das Buch „Die Tödliche Doris – Kino/Cinema“ vor. Und wer es bisher nur geahnt hat, dem wird spätestens jetzt klar, daß Doris nahezu unerschöpflich und super aktuell ist. Komplexität und Vielfalt des Werkes der Künstlergruppe zwischen Musik, Malerei, Fotografie und Performance gehört zum Besten, was die 1980er Jahre zu bieten haben.
Das reich bebilderte und zweisprachige Buch behandelt die Filme in alphabetischer Reihenfolge. Dazwischen aber, wie könnte es anders sein, entfaltet Doris ein Feuerwerk der Hintergründe, Zusammenhänge, Arbeitsweisen und Ideologien. Fast alle Texte stammen vom Kopf der Gruppe, Wolfgang Müller. Der versieht den kürzesten Film des Trios „Die Gesamtheit allen Lebens und alles Darüberhinausgehende – gerade mal 2 Sekunden lang - mit dem längsten Text im Buch, Überschrift: Punk. Hier erfahren wir erstaunliche Dinge über den Anfang der Love Parade und Dr. Motte, Die Einstürzenden Neubauten und die Gründungszeit der Tödlichen Doris. Und endlich erfährt auch Doris-Mitbegründer Nikolaus Utermöhlen nach seinem Tod im Jahre 1996 eine ganzheitliche Würdigung. Ende der 90er Jahre war er einer üblen Geschichtsverfälschung zum Opfer gefallen. So ist das in der Gesamtheit allen Lebens und dem Darüberhinausgehenden.
In „Synchronisierte Bewegungen“ zum Film „Wasserballett“ entwickelt Müller eine geistreiche Analyse von Aufmärschen und Lichterketten in Ost und West und einem 20 Jahre alten Interview fügt er noch Antworten aus dem Jahr 2003 hinzu. Dieses Buch geht weit über die Filme und einen historischen Rückblick hinaus. Es beschreibt einen Stil, an dem noch kräftig gearbeitet wird.

Susanne Vogt in Junge Welt, 8.10.2003
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Hang zum Gesamtkunstwerk
von Gregor Kessler
in: Financial Times Deutschland, 19.3.2003

“Der Tod”, sang das Berliner Künstler-Kollektiv “Die Tödliche Doris” 1982, “ist ein Skandal.” Andere sollten bald folgen. Nicht genug damit, dass die Gruppe um Wolfgang Müller treibende Kraft der tabu und virtuositätslos den hauptstädtischen Untergrund beschallenden Bewegung der “Genialen Dilletanten” (sic) war, rasch eignete sie sich auch weitere Kulturfelder an. Schon bald traf man die “Tödliche Doris” als Malerin, als Fotografin, Performance- und Videokünstlerin in Klubs und Galerien zwischen New York, Warschau und Helgoland. “Die Tödliche Doris”, erkannte Dietrich Kuhlbrodt bereits 1982 in der Frankfurter Rundschau, “ist immer dort, wo du sie nicht erwartest.”
Etwa im Kino. In den sieben Jahren ihres Bestehens (1980-1987) produzierte die Gruppe neben einer Bewerbung für den Berliner Senat, einem umfangreichen Fotoarchiv und einer Vielzahl von Kassetten und Schallplatten auch eine Reihe von Kurzfilmen. Zu sehen waren letztere schon zur Zeit ihres Entstehens nur an ausgewählten Orten, in den vergangenen Jahren gleich gar nicht mehr. Nun kümmert sich der rührige Berliner Liebhaber-Verlag Martin Schmitz darum, dass die verschollen geglaubten Filmarbeiten der “Tödlichen Doris” erneut ins Kino kommen. Mit finanzieller Unterstützung des Berliner Senats und des Hauptstadtkulturfonds wurden etwa 240 Minuten Super-8-Aufnahmen digitalisiert und technisch überarbeitet.
Gewackelt wird dennoch reichlich. Schließlich galt der “Tödlichen Doris” auch für ihre Filme, was Wolfgang Müller bereits 1982 im von ihm herausgegebenen Merve-Bändchen “Geniale Dilletanten” für die Musik postulierte: “Ernsthafte Musiker, verbissen, stur und unfreiwillig komisch, können keine lustigen Geräusche erzeugen, denn um Unbekanntes zu finden, muss man Freude am Spielen haben, das durchaus mit heftigen Schmerzen gepaart sein kann.” Da spricht der Punk-geschulte Geist, der Virtuosität stets verneint und die künstlerische Innovation im spielerischen Unvermögen sieht.
Dass dieses Konzept nicht immer aufgeht, dafür hält die Punkgeschichte reichlich Beispiele parat. Das filmische Vermächtnis der “Tödlichen Doris” fügt noch ein paar weitere hinzu, zeigt aber auch, wie wundersam sich Irritation und Faszination verquicken, wenn die auf dem Papier gut klingende Idee dann auch auf Zelluloid funktioniert.
Etwa im wohl bekanntesten Film der “Tödlichen Doris”, “Das Leben des Sid Vicious”. Nur wenige Tage nach dem Tod des Bassisten der “Sex Pistols” durch eine Überdosis Heroin verfilmt die Gruppe 1981 das Leben der Punk-Ikone. In der Hauptrolle: der zweieinhalbjährige Oskar. Wie dieser nun, von einer authentizitätsverliebten Requisite mit Hakenkreuz-Shirt, Nietenarmband und Zuckerwasser gefestigtem Haarschopf versehen, von frühkindlicher Neugier beseelt durch Berlin watschelt; ein paar Hand voll Pflastersteine wirft und schließlich im “Drogenrausch” seine Gespielin Nancy “ersticht”, das hat gleichzeitig etwas Verstörendes und Entlarvendes über Punk und seinen Balanceakt zwischen Hedonismus und Nihilismus.
Dass die Verbindung der “Tödlichen Doris” zu Punk immer nur eine ästhetische, nie eine stilistische war, belegt nahezu jeder der gezeigten Kurzfilme. Sowohl der ihres ersten Open-Air-Konzerts 1983 auf Helgoland, wo Wolfgang Müller und Tabea Blumenschein vor dem reduzierten musikalischen Hintergrund aus Schifferklavier und einer Trommel priesterhaft aus dicken Büchern deklamieren, wie auch das Wasserballett, das die Gruppe 1984 in einem Kreuzberger Hallenbad aufführte und filmte.
Weil die Idee bei der “Tödlichen Doris” immer mehr zählte als ihre Konsumierbarkeit, werden diese beiden Kinoabende keine leichte Unterhaltung. Dafür ein wichtiges Artefakt der wild sprießenden Früh-80erSubkultur, und für den “Hang zum Gesamtkunstwerk”, wie die “Tödliche Doris” es in einer ihrer frühen Ausstellungen nannte.

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Verwende deine Jugend
von Kai Müller
in: Der Tagesspiegel, 18.3.2003

Als sie neben einem Passbildautomaten mehrere Bilder fanden, auf denen immer derselbe Mann zu sehen war, staunten sie nicht schlecht. Für jedes Foto hatte der Mann einen anderen Hintergrund gewählt und sie dann doch alle weggeworfen. Einmal öffnete er eine Seitenklappe, während es blitzte. Da dämmerte es den beiden Berliner Kunststudenten, dass es sich bei dem geheimnisvollen Besucher, dessen Porträts sie auch neben anderen Passbildautomaten in der Stadt fanden, nur um einen Angestellten der Betreiberfirma handeln konnte. Heute kann man diese Geschichte nicht mehr erzählen ohne an “Die wunderbare Welt der Amelie” zu denken. In Jean-Pierre Jeunets Erfolgsfilm aus dem Jahr 2001 taucht der wundersameTyp wieder auf. Seine zerrissenen Porträts füllen ein ganzes Album und werden für einen jungen Träumer zur Obsession.
Die Idee, aus weggeworfenen Passbildern einen Film zu machen, wurde vor über 20 Jahren in Westberlin geboren. Wolfgang Müller und Nikolaus Utermöhlen fllmten die zerstückelten, missglückten Fundstücke mit einer Super-8-Kamera ab, und in “Der Fotomatonreparateur” reihten sie minutenlang Testbilder des immer auf dieselbe, teilnahmslose Weise in den Apparat glotzenden Technikers aneinander. Die Filme wurden Anfang der Achtzigerjahre auch im Pariser Musée d'Art Modeme gezeigt. Mehr als 500 Personen hätten die Doris-Filmchen nicht gesehen, meint Müller heute, und es ist ihm ein Rätsel, wie der Fotomatonreparateur nach so langer Zeit in einem französischen Kinofilm wieder auftauchen konnte.
Vielleicht sollten wir uns fragen, warum eine Künstlergruppe mit dem Namen “Die Tödliche Doris” 1982 zum wichtigsten französischen Kunstfestival eingeladen werden konnte, obwohl es sich eigentlich um eine Band handelte. Wenn auch um eine ungewöhnliche. Als sich Müller, Utermöhlen und Käthe Kruse im Schatten der Punkbewegung zu einer Gruppe formierten, waren sie nichts weiter als musikalisch halb bewanderte Enthusiasten. Müller und sein Studienfreund, der 1996 an Aids verstorbene Utermöhlen, sollten als Seminararbeit ein Plattencover entwerfen und sie lieferten die Musik gleich mit in der gedruckten Hülle befand sich - sehr zur Verwunderung ihres Professors - die erste Schallplatte der Tödlichen Doris. Ihr sollten bis zur Auflösung der Band 1987 sechs weitere Veröffentlichungen folgen. Nicht alle konnte man kaufen, vor allem die “Unsichtbare LP” nicht, die nur hörte, wer die beiden vorausgegangenen Platten (“Unser Debüt” und “Sechs”) gleichzeitig abspielte.
Sie hätten “mit den Mitteln der Musik wie bildende Künstler gearbeitet”, sagt Wolfgang Müller. Wenn die Malerei von ihnen nicht verlangt hätte, sich jahrelang in der Abgeschiedenheit eines Ateliers um eine eigene Sprache zu bemühen, wären sie vielleicht Maler geworden. Musik war das schnellere Medium - vor allem, nachdem Punk die Kategorien all dessen zerstört hatte, was erlaubt war und was nicht. Man musste jetzt kein Instrument mehr beherrschen können. Blixa Bargeld, Sänger der Einstürzenden Neubauten, trug seinerzeit einen selbst gebastelten Sticker an der seiner Jacke: “Genialer Dilletant” (sic!) stand darauf. Das fand Wolfgang Müller gut. Auch er war der Überzeugung, dass es die Fachleute sind, die die Welt kaputt machen. Als Bargeld im Tempodrom ein Festival der genialen Dilettanten initiierte, bekam die Szene, die sich bis dahin in Bargelds “Eisengrau”-Laden getroffen, aber “keine richtige Heimat” besessen hatte (Bargeld), zumindest einen Namen. Während die Einstürzenden Neubauten auf dem Stahl- und Alltagsschrott der Mauerstadt aggressive Klangskulpturen errichteten, blieb das Soundbild der Tödlichen Doris stets konventionell. Schon deshalb, weil die Musiker auf Akkordeon, Schlagzeug, Geige, Bass oder Gitarre nicht verzichten mochten. Gesungen wurde zwar auch, doch meist rezitierte Müller krude, narrative Texte von brutaler Komik: “Elisabeth B. 37, sitzt vor dem Frisiertisch und frisiert sich die Haare. Dabei zündet sie sich eine Zigarette an. Sie nimmt sich das Haarspray und sprüht sich damit die Haare ein. Dabei entzündet sich das Spray und wird zum Flammenwerfer. Der Kopf verkohlt und in Sekundenbruchteilen explodiert die Spraydose.” Dergleichen Katastrophen reihen sich in “Sieben tödliche Unfälle im Haushalt”(1981) zu einem gespenstischen Kaleidoskop des alltäglichen Versagens. Dazu hört man das trockene, gleichmäßige Pochen einer Trommel und die Schlangenlinien einer einsamen Klarinette. “Die haben das Böse zugelassen”, erinnert sich Annette Humpe.
Dabei wollen Doris-Songs keineswegs erschreckend klingen, die Musik ist gerade eben so anwesend, dass man sie nicht für eine Nebensache hält, ein poröses, minimalistisches Beat-Gerüst mit ein paar melodischen Ornamenten. Dem Achtzigerjahre-Pathos des erwarteten Weltuntergangs setzt die Band eine einfache Botschaft entgegen: Man muss akzeptieren, dass sich die Welt ungerührt weiterdreht. In diesem Sinne hat das Trio schon sehr früh die Anti-Haltung des Underground unterlaufen und darauf verzichtet, ein musikalisches Profil aufzubauen. “Für den Kunststudenten Müller sah die Lebensperspektive eben anders aus als für den ungelernten, arbeitslosen Arbeiter Bargeld”, erklärt dieser den Sonderstatus der Gruppe. “Ich hatte nicht die Wahl zu sagen, ich möchte nicht auffindbar sein. Ich hätte eine Rock-Musiker-Karriere nicht weggeschmissen für ein Nichts.”
Tatsächlich verstanden sich Müller&Co nie als Musiker - auch nicht als schlechte. Eher als Akteure eines Happenings, das sämtliche Kunstformen in eine Art symbolischen Gegenkreislauf einbindet. Sie malten Bilder, arbeiteten an Rauminstallationen oder Hörspielen und drehten Filme, des Geldes wegen auf Super-8. Manche wurden bei Konzerten auf eine rückwärtige Leinwand geworfen, so dass die Musiker wie The Velvet Underground zur lebenden Projektionsfläche psychedelischer Lichtexperimente wurden.
Wenn das Arsenal-Kino nun erstmals das filmische Gesamtwerk der Tödlichen Doris zeigt, dann entrollt sich vor dem amüsierten Beobachter ein weit verzweigtes, erstaunlich kohärentes Bezugssystem aus Querverweisen und ironischen Anspielungen. Sei es, dass der Beuys- und Karl Valentin-Fan Müller die Gewaltorgie der Punk-Heroen Sid und Nancy mit zwei Kindern nachinszeniert (“Das Leben des Sid Vicious”), die drei Bandmitglieder sich in eigenartigen Kostümen grotesken Tanzbewegungen hingeben (“Tanz im Quadrat”, “Wasserballett”, “Kellertanz”) oder das Schicksal des “Graupelbeerhuhns” zu ergründen suchen - das Medium eröffnet eine weitere Spiegelfläche ihres absurden Theaters. Obwohl die Tödliche Doris unberechenbar sein wollte, lag ihr viel daran, die Dinge zu entmystifizieren. “Meist wirken Sachen viel irritierender”,sagt Müller, “wenn man sie nicht verschleiert”.
Mit Punk hatte djeser Ansatz wenig gemein. Das musste jüngst erst Jürgen Teipel, Autor des Punk- Romans “Verschwende Deine Jugend” erfahren. Er erkundigte sich für eine Ausstellung nach altem Super-8-Material mit der Bemerkung, Müller habe doch bestimmt noch ein paar Filmrollen “in irgendwelchen Kartons herumliegen”. “Da begriff ich, dass er uns total falsch verstanden hatte. Alles, was wir machten, haben wir stets ordentlich archiviert.” Von Anfang an hatte die Gruppe ihr Bestehen auf sieben Jahre begrenzt. Bands würden ohnehin irgendwann auseinander fallen, meint Müller, und nach sieben Jahren sei alles gesagt. Dass sie heute als wichtigste unentdeckte Gruppe der Westberliner Bohéme gelten, kommt zumindest für einen nicht ganz überraschend: “Leuten wird ein Projekt unheimlich, wenn es seine eigene Rezeption miteinbezieht. Es braucht Jahre, bevor es neu bewertet wird.” Sagt Wolfgang Müller.

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Konzept, Zufall, Ironie
von Claus Loeser
in: die tageszeitung, 20.3.2003

Helgoland, die berühmte Nordseeinsel. Unter Wilhelm II. und unter Adolf Hitler zwei Mal als Flottenstützpunkt ausgebaut, zwei Mal zerstört. Nach dem letzten Krieg von der britischen Luftwaffe als Bombodrom benutzt, Ein auch musikalisch geschichtsträchtiger Ort. 1841 schrieb hier August Heinrich Hoffmann von Fallersleben den Text zum “Lied der Deutschen”, das mit der Melodie von Joseph Haydn später als “Deutschlandlied” bekannt wurde.
Am 23. Juli 1983 setzt die Berliner Band Die Tödliche Doris mit einem Kreuzfahrtschiff namens “Funny Girl” auf das Eiland über, postiert sich auf dem höchsten Punkt der Insel und beginnt, mit Trommel, Akkordeon und Gesang Stücke aus ihrem Repertoire zu intonieren: Käthe Kruse, Wolfgang Müller, Nikolaus Utermöhlen und Tabea Blumenschein, als Tonmeister Blixa Bargeld, an der Kamera Ades Zabel. Die Musik wirkt statuarisch, irgendwo zwischen Moritatengesang, Neo-Dada-Post-Punk und dem späten Paul Dessau. Der Wind zerzaust Haar und Kleider der Künstler, verwirrte Touristen bleiben kurz stehen und gehen dann weiter. Unbeirrt wird das Programm bis zur Rückfahrt des Kahns fortgesetzt.
Der Kurzfilm “Open Air Helgoland ´83 vereint alle Tugenden der insgesamt 38 Arbeiten, die jetzt erstmals in so kompakter Form, in drei Blöcken zu sehen sind. Zwanzig Jahre nach ihrer Entstehung wirken die Filme frisch wie am ersten Tag. Sie leben vor allem von Ihrer reichen historischen, ästhetischen und politischen Subtextuierung sowie dem hohen Maß an Selbstironie. Das Super-8 Format erscheint dabei als ideales Medium: Mit seinen technischen Unzulänglichkeiten macht es den Faktor Zufall zum gleichberechtigten Gestaltungselement ganz im Sinne John Cages oder William S. Burroughs'. Durch den hohen Abnutzungswert in Form von Laufstreifen und Schrammen gewinnt das Material schnell an Patina - ein Effekt, der von keinem Computer der Welt authentisch simuliert werden kann. Bei aller Improvisation werden die zur Verfügung stehenden Mittel jedoch stets so perfekt gehandhabt, wie es eben ging; schludrig gedreht wirken diese Filme nie. Es schlägt dabei zu Buche, dass es sich bei Die Tödliche Doris um ein strikt synästhetisch angelegtes Projekt handelte. So wenig die Künstler im herkömmlichen Sinne als Musiker Karriere machen wollten, so wenig war ihnen an der klassischen Etablierung auf dem Kunstmarkt gelegen. So fern lag es ihnen auch, “richtige Filme” zudrehen. Nicht ein kalkulierbarer Wirkungseffekt stand dabei im primären Interesse, sondern das Unvorhersehbare.
Ein schönes Beispiel für das Zusammenspiel von Konzept, Zufall und ironischer Brechung liegt mit dem “Städteflim München” (1983) vor. Es gehörte zwischen 1982 und 1984 zum Usus der Liveauftritte von Die Tödliche Doris, vor dem eigentlichen Konzert jeweils einen kurzen Film über die Stadt des Gastspiels zu zeigen. Dieser Film musste von den Veranstaltern selbst gedreht werden, wurde mit einem Kommentar versehen und fand nach seiner einmaligen Vorführung Eingang ins Oeuvre der Künstlergruppe. Insgesamt entstanden auf diese Weise achtzehn Filme über sechzehn Städte. Für den Auftritt im legendären Werkstattkino München griff 1983 Doris “Dolly” Kuhn zur Kamera. Offenbar hatte sie während des Drehens vergessen, den Objektivschutz abzunehmen, so dass auf den zwei Rollen Film nicht der Hauch auch nur eines Bildes zu erkennen war. Am Telefon unterhielten sich Kuhn und Müller über das Missgeschick - das Gespräch wurde mitgeschnitten und diente dann in München als Soundtrack für sechs Minuten Schwarzfilm, der “unerbittlich auf die Leinwand projiziert wurde.
Unter den fast vierzig Kurzfilmen, die während der sieben Jahre (1980-1987) währenden Existenz von Die Tödliche Doris entstanden sind, befinden sich performative (“Wasserballett”) und narrative (“Das Leben des Sid Vicious”) Arbeiten, Animationen (“Die Gesamtheit allen Lebens und alles Darüberhinausgehende”), Doku-Fakes (“Energiebeutel und Zeitblase”) und Konzertmitschnitte (“Live”). Auch das abwegige Genre des Fotofilms bedienten Wolfgang Müller und seine KollegInnen: “Material für die Nachkriegszeit” (1980) besteht aus Passbildern, die aus Abfallbehältern von in U-Bahnhöfen aufgestellten Fotoautomaten gefischt wurde. Neben einer Reihe wechselnder, mitunter zerrissener und neu zusammengesetzter Porträts wiederholt sich immer wieder das Bild eines ernst dreinblickenden Mannes; vermutlich zu Testzwecken angefertigte Aufnahmen eines Automatenwarts. Kommt einem das nicht irgendwie bekannt vor? Vermutlich ist Erfolgsregisseur Jean-Pierre Jeunot (“Die wunderbare Welt der Ameélie”) auch ein alter Fan von Die Tödliche Doris.

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Sieben glorreiche Jahre
von Christina Moles Kaupp
in: Tip Berlin 06/03

Die Tödliche Doris tanzte in den 80ern auf allen Partys. Musik, Malerei, Performance, Literatur, Film - alles wurde aufgemischt. Das Arsenal widmet dem legendären Berliner Künstler-Trio zwei Abende und zeigt das filmische Gesamtwerk.
Sabine sitzt in einer Ruine. Sie trägt ein weißes Kleid, PunkMake-up und träumt sich in ein Märchen hinein. Wähnt sich allein an verwunschenem Ort, redet ihn sich schön. Worauf wartet sie? Auf den Mann? Ein besseres Leben? Oder, dass einfach nur die Zeit vergeht? “Sabine - aus meinem Tagebuch” heißt der sonderbare Super-8-Film des nicht minder sonderbaren Künstlerkollektivs namens Die Tödliche Doris und führt zurück in die frühen 1980er Jahre. Zeit hatte damals ein anderes Format, schien dehnbar bis ans Ende aller Tage, ein Gummiband für Tagediebe und Kreative. Und dann fegte da noch dieser Sturm durch die Kunstszene und drängte. Nach dem Anderssein. Nach dem Wilden. Nach Dissidenz im Hier und Jetzt.
Im maroden Westberlin fanden sich die besten Kulissen, hier explodierten Klänge und Geschichten. Einfach genial. Oder genial dilettantisch wie das Wirken der Tödlichen Doris und ihrer Trabanten. Von vorneherein auf nur sieben Jahre konzipiert, experimentierte Die Tödliche Doris bis 1987 mit Sinn und Parodie, Kunst und Theorie - Wolfgang Müller, Nikolaus Utermöhlen und Käthe Kruse kannten sich aus im Kunstdiskurs. Sie machten Musik, die grässlich klang, stümmelten Texte dazu und stellten sich ins Rampenlicht. “7 tödliche Unfälle im Haushalt” hieß ihre erste Single, schmerzhaft gellte sie in den Ohren. Lyrik mit lärmenden Widerhaken, Bilder mit Krakelschrift, Performances mit Überraschungsgästen.
Die Tödliche Doris war plötzlich überall. Auf der documenta 8 in Kassel, im Museum of Modern Art in New York, im Musée d'Art Moderne in Paris. Zwischen Dada und Punk oszillierten ihre Performances und Kurzfilme. Passend zur 80er-Retrohysterie strebt das Filmwerk nun wieder zurück ins Licht.
Mit “Sabines Tagebuch” beginnt der erste des drei Teile um-fassenden Filmschaffens. Darunter findet sich der Open-Air-Auftritt der Band auf Helgoland 1983 und das Drama um “Sid und Nancy”, gedreht drei Tage nach dem Drogentod von Sid Vicious. Dafür schwärzte die einstige Doris-Schlagzeugerin Dagmar Dimitroff ihrem dreijährigen Sohn Oskar die Haare und verpasste ihm ein T-Shirt mit Hakenkreuz. Irgendwann landete Oskar bei der siebenjährigen Angie in einem zugemüllten Zimmer. Angie trug Strapse und schwamm zum Schluss in Ketchup-Blut. So viel zur Biographie einer Punk-Ikone.
Schier endlos dauert das Defilee diverser Tapetenmuster auf der Leinwand - einst spielte die Band dazu. Dann zeugt “Material für die Nachkriegszeit” von ungebremster Sammelwut: zerknüllte Passfotos wurden rekonstruiert und zum Leben erweckt. Ähnlich entstand auch “Der Fotomatonreparateur” von 1982, er nimmt eine Idee des Erfolgsfilms “Amélie” vorweg: Auf mehreren gefundenen Automatenfotos findet sich ein Unbekannter vor unterschiedlichen Hintergründen. Sind es die Testaufnahmen des Mechanikers?
Faszinierend auch die Städteporträts: Wann immer die Band zu einem Konzert geladen wurde, hatte der Veranstalter vorab einen ganz gewöhnlichen Sechsminüter über die jeweilige Stadt zu drehen. Während Galerist René Block für das schlichte Berlin-Porträt verantwortlich war, bestach der Film aus München von Doris Kuhn durch permanentes Schwarz. Kein politisches Statement steckte dahinter - die Frau hatte wahrscheinlich die Kappe nicht vom Objektiv genommen. Ein ergänzendes Telefonat rettete den Beitrag, dessen Untertitelung etwas Licht ins Dunkel bringt. Herrlich, wenn Kuhn erzählt, was sie alles gefilmt hatte und dann vorschlägt: “Ich könnte morgen in den Tierpark gehen und noch schnell was drehen!” So einfach ging das, heiter und frei.

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